Fluchtziel Schweiz – ein Architekturthema?
Manuel Pestalozzi
28. 四月 2016
Ursache und Wirkung der Migration in angemessene Architektur verarbeitet: Casa Maria, Dietlikon, 1982/83 (heute stark verändert). Foto aus Artikel von Francesco Moschini in Domus 642. Bild: Fondo Francesco Moschini, ffmaam.it
Der epochale Zustrom von Menschenmassen lässt in unseren Breiten niemanden kalt. Was können die Architektinnen und Architekten als Berufsleute ausrichten? Eine Revitalisierung bestehender Bauten und Konzepte scheint das Naheliegendste.
Es steht ausser Zweifel: Internationale Wanderbewegungen haben eine neue Qualität erhalten. Entwicklungen im Verkehrs- und Kommunikationswesen lassen zusammen mit der wirtschaftlichen Globalisierung Distanzen schrumpfen, die Möglichkeiten, natürliche und künstliche räumliche Grenzen überwinden, sind so zahlreich wie nie zuvor. Die Bedeutung von Begriffen wie Sesshaftigkeit und Nomadentum wird kräftig durchgeschüttelt.
Die aktuellen Fluchtströme sind ein Teil dieser Entwicklung. Wie Magneten scheinen gewisse Regionen Menschen abzustossen, andere ziehen sie ebenso magnetisch an. Eigentlich ist das nichts Neues, dennoch macht sich in unseren Breiten Hektik und Nervosität breit. Das überrascht wenig, die Vorgänge spielen sich in einem schwer überblick- und berechenbaren globalen Rahmen ab und erzeugen eine Eigendynamik. Sie stellen die Zielländer vor vollendete Tatsachen und lassen sich nicht kontrollieren. Die Menschenströme haben ein quantitatives Ausmass und eine kulturelle Vielfalt, die ungewohnt ist. Wie lange die Zuwanderung in der aktuellen Intensität andauert, kann nicht vorausgesagt werden. Und auch wenn in jeder Hand- oder Hostentasche ein identisches Smartphone steckt: Die Ankömmlinge sind fremd, ihre Wünsche, Vorstellungen und Erwartungen lassen sich nur in vagen Umrissen erkennen.
Wes Geistes Kind? Zuwandererunterkünfte in Dachaufstockungen über Hannover. Studentenprojekt aus dem Jahr 2015. Bild: Leibniz-Universität Hannover
Nach der Lage an den Rändern Europas zu schliessen, besteht an den Zieldestinationen der Fluchtströme das Risiko von Chaos und Obdachlosigkeit. In den betreffenden Ländern löst es ein Bedürfnis aus, Ordnung und Sicherheit zu schaffen und Unterkünfte bereitzustellen. Letzteres ist Aufgabengebiet der Architektur. Es gibt denn auch Reaktionen beim Berufsstand, vor allem in Deutschland, wo der Handlungsbedarf aktuell besonders akut erscheint. Motivation boten bisher Argumente der Menschenwürde, wie eine Studentenarbeit an der Leibniz-Universität in Hannover dokumentiert. Die Debatte dreht sich aber auch um die Reduktion von Baukosten und die Lockerung von Komfort- und Nachhaltigkeitsstandards.
Vergebliche Suche nach einem Kontext
Die Architekturszene der Schweiz scheint die unkontrollierte Zuwanderung bisher wenig umzutreiben. Offenbar vertrauen Architektinnen und Architekten hierzulande darauf, dass die Behörden die Sache im Griff haben und sich bei Bedarf melden. Das Fluchtziel Schweiz als Anlass zu «spezieller» Architektur ist kein gross diskutiertes Thema. Gut so! Denn auf die Frage nach dem Kontext, auf welchen eine solche Architektur reagieren könnte, gibt es bislang keine klaren Antworten. Die Vermutung liegt nahe: Die Schweiz als Fluchtziel schafft keinen Kontext. Alleine die grosse Zahl an Asylgesuchen reicht dafür nicht aus. Das wünscht sich nach aktuellem Wissenstand auch niemand, weder das Empfangsland noch jene, die zuwandern.
Kein Ghetto, kein Reservat, keine Stigmatisierung. Diese Ziele muss man von einer Einrichtung wie einem Bundesasylzentrum erwarten können. Visualisierung anlässlich der Ausschreibung für ein Provisorium für 360 Personen auf dem Duttweiler-Areal in Zürich. Bild: www.stadt-zuerich.ch
Phasen
Für Ankommende, die in der Schweiz um Asyl nachsuchen und wirtschaftlich nicht unabhängig sind, ist das räumliche Angebot bestimmten Verfahren angepasst. Es gehört zum Korsett aus Vorschriften, Anweisungen, einem Einführungsritual und Einschränkungen, in das die Zuwanderer steigen müssen. Der Staat tritt als Gastgeber auf und sorgt für eine Herberge. Für die räumlichen Einrichtungen rund um die Verfahren sorgt weitgehend die öffentliche Hand. Im Rahmen dieser Willkommenskultur wurden schon mehrere Architekturwettbewerbe durchgeführt. Zu entwerfen waren «Durchgangsstrukturen» für den temporären Kurzaufenthalt: schlicht, simpel, kostengünstig, modular – Architektur mit Provisoriumscharakter.
Nicht nur aus Kostengründen ist dieses Vorgehen angebracht. Die betreffenden Strukturen widerspiegeln auch den allgemeinen Willen, diese Verfahrens- und Aufenthaltsorte als Übergangsphase so diskret wie möglich zu machen. Die Ankommenden wollen schnell weiter, die Bauherrschaft hofft, dass die Asylgesuche zurückgehen und die Gebäude umgenutzt oder wieder entfernt werden können. Wenn Empfangs- und Durchgangszentren eines nicht sollen, dann ist es dies: Permanenz ausstrahlen.
Projektidee der Halter AG in Zusammenarbeit mit Olivier de Perrot Architecture für das Duttweiler-Areal, Zürich, aus dem Jahr 2013. Asylunterkunft als Sockelbau im Trendquartier. Bild: www.duttweiler-areal.ch
Wie weiter?
Bloss weil die Schweiz ein Fluchtziel ist, sollte sie nicht anders bauen als bisher. Erfahrungsgemäss ist davon auszugehen, dass die meisten Neubewohnerinnen und -bewohner sich nichts sehnlicher wünschen, als den Status eines anerkannten «Normalos» durchschnittlich schweizerischen Zuschnitts. Es könnte aber sein, dass neue Bedürfnisse, die ohnehin am Entstehen sind, durch die Zuwanderung akzentuiert werden. In den Sinn kommen da kostengünstige Unterkünfte für alleinstehende, einkommensschwache Menschen und Wohnungen für Grossfamilien oder Familienverbände. Auch das neu auszuhandelnde Verhältnis zwischen Sesshaftigkeit und Nomadentum sollte beim Wohnangebot thematisiert werden.
Falls die Vermutungen korrekt sind und sich aus ihnen wirklich wichtige Themen für die Aufnahme von Menschen auf der Flucht ableiten lassen, dann scheint die hiesige Architekturszene bewusst oder unbewusst ausgezeichnete Vorarbeit geleistet zu haben. Es gibt inzwischen gute, funktionierende «Prototypen» von Satellitenwohnungen, wie auf dem Hunziker-Areal, frei zwischen verschiedenen Parteien unterteilbare Geschossstapel, wie in den «Balance»-Wohnparks und zahlreiche Varianten von WGs und Studentenunterkünften, die sich mit ihren Typologiene auch für Wanderarbeiter und -arbeiterinnen eignen würden. Es handelt sich um Lösungen, die sich in verschiedene städtebauliche Kontexte integrieren lassen, und sie könnten einen wertvollen Beitrag zur inneren Verdichtung von Siedlungsgebieten leisten.
Attraktiv wäre auch eine neue, einfache und kostengünstige Neuinterpretation der Herbergs-Idee. Die eingangs abgebildete Casa Maria des Bau- und Küchenbauunternehmens Piatti ist ein architektonisch anspruchsvoller Ansatz für eine solche Neuinterpretation. Das von Livio Vacchini und Mario Piatti entworfene Haus steht jetzt allerdings nicht mehr am Rand des Werkhofs sondern mitten in einem neuen Wohnquartier. Es ist in ein normales Mehrfamilienhaus umgewandelt worden und mit seinen Balkonen und der Wärmedämm-Verbundfassade nicht mehr wiederzuerkennen. Schade!