Wie kann das Zauberdorf überleben?
Ulrike Hark
28. 十二月 2023
Im Sommer ist Quinten ein Touristenmagnet, doch im Winter kehrt Stille ein. (Foto: Ladina Bischof)
Die Gemeinde Quinten am Walensee hat zwei Gesichter: Im Sommer drängen sich zahllose Tourist*innen in dem pittoresken Dorf, im Winter dagegen ist es verlassen und wirkt mystisch. Gion A. Caminada hat mit Studierenden der ETH Zürich Lösungen entwickelt, die ganzjährig kulturelle Vielfalt und nachhaltige Wertschöpfung ermöglichen, ohne dass der Ort seine Einzigartigkeit verliert.
So sieht Idylle aus: Eine kleine Siedlung am See, umgeben von Rebbergen und darüber schroffe Felswände – die mächtigen Churfirsten. Ein Ort, an dem dank des milden Mikroklimas Palmen, Feigen und Kiwis gedeihen. Und wie aus der Zeit gefallen ist dieses kleine Paradies nur mit dem Schiff oder zu Fuss erreichbar. Wer im Zug zwischen Ziegelbrücke und Walenstadt unterwegs ist und für einmal nicht aufs Handy schaut, sondern aus dem Fenster, ist vom Anblick dieser Ortschaft sofort fasziniert. Quinten hat etwas Märchenhaftes, man möchte dort sein – ein Sehnsuchtsort.
Doch wie lebt es sich in dieser unmodernen Abgeschiedenheit? Offenbar schwierig, denn Quinten verliert laufend Einwohner*innen. Derzeit leben noch rund 40 Menschen ganzjährig dort, darunter ein Schulkind. Umgekehrt nimmt der Tourismus groteske Formen an: Etwa 200'000 Menschen kommen hauptsächlich im Sommer zu Besuch und überfüllen die wenigen Gassen und Restaurants. Die Boote von Murg aus werden an Sonntagen geradezu gestürmt, und viele Gäste sagen sich: Nie wieder!
Quinten liegt am steilen Ufer des Walensees. Die Gemeinde ist nur mit dem Schiff oder zu Fuss erreichbar. (Foto: Ladina Bischof)
Die vielen Tourist*innen, die das Dorf den Sommer über bevölkern, bleiben während der kalten Jahreszeit weitgehend aus. (Foto: Ladina Bischof)
Zwischen Bevölkerungsschwund und ÜbertourismusWie kann man diesen Schönwetter-Tourismus entzerren beziehungsweise den Tourismus überhaupt für den Ort nachhaltiger gestalten? Wer den sendungsbewussten Architekturprofessor Gion A. Caminada kennt, weiss, wie wichtig ihm die kulturellen und sozialen Aspekte des Bauens sind: «Architektur muss vom lokalen Kontext gestützt sein», sagt er, «nur dann wird sie sinnstiftend für die Kultur eines Ortes». Und so ging es im Rahmen seines Entwurfsstudios «Orte schaffen» in den Semestern 2020/21 um weit mehr als gute Architektur: Möglichst viele Akteur*innen des Ortes wurden von den Studierenden in ihre Arbeit einbezogen, etwa der Kunsthistoriker Marc Antoni Nay, der seit vielen Jahren in Quinten wohnt, sowie die Stiftung Quinten lebt. Sie setzt sich dafür ein, dass im Dorf mehr Wohnraum und Arbeitsplätze geschaffen werden, um auch junge Familien nach Quinten zu holen. Doch neues Bauland könnte nur durch den Abtausch von Grundstücken ausgeschieden werden, was baurechtlich kompliziert ist.
«Die Projekte der Studierenden haben hohe Qualität und geben der Diskussion, wie sich Quinten entwickeln soll, wichtige Impulse», sagt Nay, der auch im Stiftungsrat sitzt. Die angehenden Architekt*innen orientierten sich bei ihren Entwürfen an Projekten, welche die Stiftung demnächst realisieren möchte, zum Beispiel eine neue Hafenanlage. Wenn es nach den Studierenden ginge, würden Gäste das Ufer über einen schwimmenden Ponton mit Warteraum erreichen, der den wechselnden Wasserstand des Sees ausgleicht; heute läuft man über Gerüstbretter. Auch das Projekt «Fischerhaus» ist durchaus realistisch. Es stellt ein Bootshaus mit Fischküche, Kühl- und Verkaufsraum unter ein kühnes, segelförmiges Dach an den See. Oder der rustikale Torkel im Weinberg, der die Wertschöpfung im örtlichen Weinbau erhöhen soll – von der Verarbeitung der Trauben über die Lagerung bis zum Verkauf mit Degustation. Eine Studentin hat den Torkel in Stampflehm entworfen mit einer Hülle aus Holz, die den Kern vor Wind und Wetter schützt. Auch ein Hotel mit Werkstatt wird vorgeschlagen, ein Kulturhaus mit Proberäumen und eine Backstube mit Dörrlaube für die Früchte des Ortes.
Quinten verliert kontinuierlich an Einwohner*innen – nur noch rund 40 Personen leben heute ganzjährig dort. Die Projekte der ETH-Studierenden sollen Wege aufzeigen, das Dorf nachhaltig zu beleben. (Foto: Ladina Bischof)
Das Klima ist so mild, dass sommers Palmen, Feigen und Kiwis gedeihen. (Foto: Ladina Bischof)
Foto: Ladina Bischof
Gute Chancen auf RealisierungSo unterschiedlich die Entwürfe sind, sie haben eine gemeinsame Konstante: Sie geben Quinten eine kulturelle Bedeutung, die über den kurzfristigen touristischen Konsum hinausweist. Viele von ihnen bieten gemeinsame Nutzungen an. So auch das Projekt «Kräutergut» von Ladina Schmidlin. Von allen Vorschlägen hat es die grössten Chancen auf eine Realisierung; die Stiftung Quinten lebt möchte es in den nächsten Jahren umsetzen.
Ein erster, wichtiger Schritt dahin ist gemacht: Mit der kürzlich durchgeführten Revision der Ortsplanung wird das dafür vorgesehene Grundstück bebaubar. Es liegt im Ortsteil Au direkt am See und wird ebenfalls vom Kursschiff angefahren. Ein spektakulärer Weg, der unter einer Felswand verläuft, verbindet die Au mit dem Ortskern von Quinten. Durch das besondere Klima bietet sich ein Kräutergarten geradezu an.
Die Studentin entwarf für den Garten auch ein Gemeinschaftshaus, in dem die geernteten Produkte verarbeitet und verkauft werden, etwa Kräutertees, Gewürze, Öle oder Seifen. Gäste könnten bei der Produktion zuschauen und an Workshops und Vorträgen teilnehmen. «Mit dem Projekt kann man die Natur, die Kulturlandschaft erleben, geniessen und auch ein Stück weit mitnehmen», erläutert Ladina Schmidlin. Marc Antoni Nay sieht noch einen weiteren Vorteil im Standort Au: «Indem wir die Au für Gäste mit einem Kräutergarten aufwerten, entlasten wir ein Stück weit Quinten Dorf.»
Gemein ist allen Entwürfen der Studierenden, dass sie der Gemeinde eine kulturelle Bedeutung geben, die über kurzfristigen touristischen Konsum hinausweist. (Foto: Ladina Bischof)
Übernachten können die Besucher*innen im «Tremondi», einem gepflegten B&B mit fünf Zimmern im historischen Ortsteil. 2017 hatte die Stiftung das Grundstück samt einem maroden historischen Gebäude gekauft und vom Architekturbüro Auer Conte aus Ennenda umbauen lassen. Die Architekten gingen subtil zu Werke, liessen Altes stehen und bauten Neues mit Feingefühl weiter. Eine Laubenkonstruktion vor der Fassade erweitert den Raum für die beiden neuen Wohnungen in den oberen Geschossen und bietet Gästen auf der Restaurantterrasse Schutz.
Seit drei Jahren erfreut sich die Herberge grosser Beliebtheit. Nicht nur wegen der gelungenen Architektur, der authentischen Küche und der angebotenen Retreats, sondern weil sie auch im Winter an den Wochenenden geöffnet ist; im Gegensatz zu den beiden anderen Restaurants im Ort, die bereits nach dem Sommer schliessen. Den See überqueren, den Alltag hinter sich lassen und ohne Trubel entspannen – das geht in Quinten auch im Winter heute schon. Das Schiff in Murg legt stündlich ab.
Foto: Ladina Bischof
«Gutes Bauen Ostschweiz» möchte die Diskussion um Baukultur anregen. Die Artikelserie behandelt übergreifende Themen aus den Bereichen Raumplanung, Städtebau, Architektur und Landschaftsarchitektur. Sie wurde lanciert und wird betreut durch das Architektur Forum Ostschweiz (AFO). Das AFO versteht alle Formen angewandter Gestaltung unserer Umwelt als wichtige Bestandteile unserer Kultur und möchte diese in einer breiten Öffentlichkeit zur Sprache bringen.