Erst angeeckt, dann wertgeschätzt
Stefanie Haunschild
28. 九月 2023
Nach seiner Fertigstellung im Jahr 1968 polarisierte St.Gallens Theater: Die einen sahen in ihm ein innovatives Bauwerk, andere hingegen nur einen hässlichen Klotz aus Beton. (Foto: Ladina Bischof)
Das Theater St.Gallen wurde nach über 50 Jahren Nutzung instand gesetzt. Bei dem Bau handelt es sich um eine Ikone der Schweizer Nachkriegsarchitektur. Das stellte die Beteiligten vor Herausforderungen.
Mutige Ideen provozieren starke Reaktionen. So war es auch Mitte der 1960er-Jahre, als der Neubau des Theaters St.Gallen die Ostschweiz mit einem Mal auf die hiesige Landkarte visionärer Architektur katapultierte. Das 1968 fertiggestellte Bauwerk des Ateliers CJP (Cramer, Jaray, Paillard) unter der Federführung des Zürcher Architekten Claude Paillard (1923–2004) war in jeder Hinsicht ein Novum: durch die Verwendung des Materials Sichtbeton, in der Konsequenz des sechseckigen Grundrisses, in der Einbindung der neuartigen Architektur in den Stadtpark und die historische Nachbarbebauung; und all das in nächster Nähe zur mittelalterlichen Altstadt. Für die einen war der Bau schon bald eine Ikone der Schweizer Nachkriegsarchitektur, für die anderen einfach ein hässlicher Betonklotz.
Paillard setzte auf ein Raster aus Sechsecken. Seine Überlegung war eine visuelle: die Bühne, die sich zum Zuschauersaal öffnet. Ausgehend von diesem Motiv verwendete er die Form in einer aussergewöhnlichen Stringenz, spielerisch und in den unterschiedlichsten Massstäben: vom Foyer über die Möblierung bis zu den Türgriffen, Leuchten und Lüstern, ja sogar bei den Lavabos in den Besuchertoiletten. Gleichzeitig setzte er auf Materialien, die die räumliche Spannung noch steigerten: Holzdecken aus kalifornischem Redwood, lederbezogene Handläufe und eine funkelnde Beleuchtung stehen in Kontrast zu den Wänden aus rauem Sichtbeton.
Das Baudenkmal fügt sich überzeugend zwischen die historischen Nachbarbauten und St.Gallens Stadtpark ein. (Foto: Ladina Bischof)
Der Sichtbeton wurde relativ zurückhaltend bearbeitet. Der Poren-Lunker-Verschluss wurde abgetragen, schadhafte Stellen darunter wurden lediglich repariert. Um dem gesamten Bau ein möglichst einheitliches Erscheinungsbild zu geben, behandelte man die Erweiterung anschliessend mit einer Lasur aus Steinmehl. Um sicher das gewünschte Resultat zu erhalten, liessen die Verantwortlichen die potenziellen Unternehmen 1:1-Muster vor Ort erarbeiten. Die Entscheidung für die ausführende Baufirma fiel danach einvernehmlich. (Foto: Ladina Bischof)
Das Sechseck mit seinen offenen Winkeln war also einerseits eine Reminiszenz an die Theaternutzung, andererseits ermöglichte diese Art von Architektur, das geforderte Raumprogramm auf dem eher knapp bemessenen Grundstück unterzubringen – die Wabe ist nach dem Kreis die effizienteste Form beim Bau: Sie bietet maximalen Rauminhalt bei minimalem Materialverbrauch für die Wände. Damit war Paillard ein Kind seiner Zeit, die Waben-Architektur hatte in den 1960er- und 1970er-Jahren ihre Blüte.
Paillard liess in den Untergrund und in die Höhe bauen, stapelte hier, staffelte dort, immer in Bezug zur Nachbarbebauung, die teils kleinteilig wie auf der Süd- und Ostseite ausfällt, teils grosszügig wie bei der Tonhalle auf der repräsentativen Nordseite. Auf die neobarocke, nach aussen gewölbte Fassade der Tonhalle reagierte Paillard mit einer konkaven Ausbuchtung seines Theaters. Die beiden Kulturbauten wirken wie zwei ineinanderpassende Puzzleteile, getrennt durch einen öffentlichen Platz, den Hauptzugang zu beiden Häusern. Im Inneren schuf Paillard spektakuläre Räume wie das Foyer, das die Besucher*innen in einer ausladenden Geste über die kaskadenartige Treppe bis in den Theatersaal im ersten Obergeschoss leitet. Ästhetik, Nutzung und Wirkung vereinen sich perfekt.
Über eine kaskadenartige Treppenanlage gelangen die Besucher*innen zum Theatersaal im ersten Obergeschoss. (Foto: Ladina Bischof)
Foto: Ladina Bischof
Neu ist nicht besserDas gilt auch heute noch. Räumlich funktionierte das Theater St.Gallen – das ökonomisch erfolgreichste Mehrspartenhaus der Schweiz – grundsätzlich bis heute, auch wenn der Platz zunehmend knapp wurde. Doch auf der technischen und der konstruktiven Ebene bestand spätestens seit den 2010er-Jahren Sanierungsbedarf. Es galt, die Gebäude- und Bühnentechnik zu modernisieren, den Brandschutz zu verbessern und die Erdbebensicherheit zu gewährleisten. Ausserdem wurde zusätzlicher Raum für Garderoben, Maskenräume, das Bühnenbildlager und den Ballettsaal benötigt. Ein weiterer wichtiger Punkt betraf die Fassade. Sie überzeugte vor allem optisch nicht mehr. Vor etwa 25 Jahren hatte man den Sichtbeton mit einer schützenden Beschichtung – einem sogenannten Poren-Lunker-Verschluss – versehen, deren Lebensdauer nun abgelaufen war.
Kritiker*innen des Baus sahen ihre Chance gekommen, den ungeliebten Betonklotz endlich loszuwerden. Doch der in solchen Fällen üblicherweise eingesetzte Trumpf «Kosten» stach nicht. Im Gegenteil: Der Abbruch des denkmalgeschützten Baus wurde auf 150 Millionen Franken geschätzt – dreimal so teuer also wie eine Instandsetzung inklusive eines Provisoriums für die Dauer der Bauarbeiten. Die St.Galler Stimmberechtigten hiessen im März 2018 mit einer Mehrheit von 62 Prozent denn auch überraschend deutlich den für die Instandsetzung und Erweiterung veranschlagten Kredit von 48,6 Millionen Franken gut.
Die rund 740 Theatersitze wurden abmontiert und neu bezogen. Der Stoff wurde dem Original entsprechend in einer robusteren Webtechnik nachgewoben. (Foto: Ladina Bischof)
Aus dem früheren Luftschutzkeller wurden Garderoben für die Mitarbeitenden des Theaters. (Foto: Ladina Bischof)
Alles schon daDen Auftrag für die Instandsetzung erhielt nach einem Planerwahlverfahren das St.Galler Architekturbüro Gähler Flühler Fankhauser Architekten. Das Team entschied, den maroden Poren-Lunker-Verschluss abzutragen und den darunterliegenden Sichtbeton zu sanieren. Keine einfache Aufgabe, da der Beton seinerzeit von Hand vor Ort gemischt wurde und dementsprechend in Farbe und Aussehen variiert. Jeweils zwei Arbeiter entfernten im Wasserjet-Verfahren 13 Monate lang die Beschichtung auf 4300 Quadratmeter Fassade, bis der Sichtbeton wieder zum Vorschein kam. Eine Aufgabe, die Fingerspitzengefühl erforderte, schliesslich sollte der historische Sichtbeton nicht beschädigt werden.
Dazu kam die Erweiterung: Um den zusätzlichen Platzbedarf zu decken, bauten die Planer*innen den bestehenden Luftschutzkeller zu Garderoben für die Mitarbeitenden des Theaters um. Zudem ergänzten sie die Nordfassade beim Eingangsbereich um eine Erweiterung. Heute ist diese nur für Kenner*innen des historischen Baus zu identifizieren. Das ist insofern bemerkenswert, als in der Denkmalpflege jahrzehntelang die Doktrin galt, dass sich historischer Bestand und neu hinzugefügte Elemente formal zu unterscheiden haben, um die Veränderungen am Bau ablesbar zu lassen. Hier hat in den letzten Jahren ein Umdenken stattgefunden. In St.Gallen entschieden die Beteiligten in enger Abstimmung mit der Denkmalpflege, die Architektursprache von Claude Paillard wieder aufzunehmen und in seinem Sinne weiterzuentwickeln – zugunsten des Gesamtkunstwerks und auch weil es sich gemessen am Gesamtvolumen um eine relativ kleine Erweiterung handelt.
Seit Juni ist der Umbau abgeschlossen, aktuell wird noch die Bühnentechnik eingebaut, bevor das Theater am 22. Oktober offiziell wiedereröffnet wird. Im Inneren ist von den umfangreichen Arbeiten kaum etwas zu sehen. Dass im Hintergrund umfassende Asbestsanierungen stattfanden und unter anderem die gesamte Gebäudetechnik erneuert wurde, wissen lediglich die Beteiligten. Dieser Ansatz hätte wohl auch Claude Paillard gefallen, der schon bei der Eröffnung betonte: «Als wichtigstes Merkmal des Neubaus kann die Tatsache gelten, dass es ein massvolles Haus ist.» Wenn Masshalten auf eine solch elegante Weise daherkommt wie beim Theater St.Gallen, dann ist Bescheidenheit ganz grosse Kunst.
«Gutes Bauen Ostschweiz» möchte die Diskussion um Baukultur anregen. Die Artikelserie behandelt übergreifende Themen aus den Bereichen Raumplanung, Städtebau, Architektur und Landschaftsarchitektur. Sie wurde lanciert und wird betreut durch das Architektur Forum Ostschweiz (AFO). Das AFO versteht alle Formen angewandter Gestaltung unserer Umwelt als wichtige Bestandteile unserer Kultur und möchte diese in einer breiten Öffentlichkeit zur Sprache bringen.