Erinnern für die Zukunft

Susanna Koeberle
14. 一月 2021
Das Hirosaki Museum of Contemporary Art wurde 2020 fertiggestellt. (Foto: Daici Ano)

Architektur prägt die Identität eines Ortes. Darüber herrscht wohl auch im Architekturdiskurs Einigkeit. Wie aber bildet sich diese Identität heraus? Und wie soll und kann zeitgenössische Architektur auf die Geschichte eines Ortes reagieren? An der Beantwortung dieser Fragen scheiden sich die Geister. Spannende Gedanken zur Frage der Identität eines Ortes liefert etwa der Text «Nicht-Orte» (1992) des französischen Anthropologen Marc Augé. Ausgehend vom Konzept der Übermoderne (das durch das Übermass an Raum und Ereignissen charakterisiert ist) zeigt er, dass Raum und Zeit (sprich Geschichte) stets miteinander interagieren und dass Identität sich in diesem komplexen Zusammenspiel konstituiert – oder eben nicht. 

Diese Ideen sind nicht nur für Architekturhistoriker*innen von Belang, sondern auch für konkrete Projekte, wie die Arbeit Tsuyoshi Tanes beweist. Der japanische Architekt hat sogar ein Manifest zu diesen Fragen verfasst, das gewissermassen den Boden für seine Entwürfe bildet. In vier einfachen Thesen verwebt Tane die zeitlichen Elemente Vergangenheit und Zukunft mit den räumlichen Begriffen Ort und Architektur. Sein Fazit: «Architektur ist Archäologie der Zukunft.» Auf diese Aussage nimmt auch der Titel der für das S AM adaptierten Werkschau Bezug, die im Oktober letzten Jahres eröffnet wurde und hoffentlich trotz der aktuellen Schliessung von Schweizer Kultureinrichtungen künftig noch einmal zu sehen sein wird. 

Diese Ausstellungsansicht zeigt die Fülle von Bildmaterial an den Wänden. (Foto © Tom Bisig)

Für das Verständnis von Tanes Arbeitsweise ist der Satz «Architecture is Memory» zentral. Der in diesem Kontext verwendete Begriff der kollektiven Erinnerung hat eine lange Karriere, auf die ich hier kurz hinweisen möchte – gerade weil es sich um einen im architektonischen Kontext eher ungewohnten Terminus handelt. Die Vorstellung eines kollektiven Gedächtnisses wurde erstmals vom französischen Soziologen Maurice Halbwachs in den 1920er-Jahren geprägt und geistert seither in verschiedenen Disziplinen herum. Halbwachs löste den Begriff des Gedächtnisses von einer rein biologischen und subjektbezogenen Definition und öffnete ihn hin zu einem kulturellen Verständnis von Erinnerung. Die Frage, ob man bei dieser Begriffserweiterung überhaupt noch von Gedächtnis sprechen kann, bejaht der Kulturwissenschaftler Jan Assmann in seinem Aufsatz «Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität» (1988). 

Texte, Bilder, Riten, Bauwerke, Denkmäler, Städte oder Landschaften gehören demnach zu einer objektivierten Kultur, welche – wie die über wenige Generationen tradierte Oral History – die Struktur eines Gedächtnisses besitzen. Assmann führt aus, dass gerade die Arbeit von Aby Warburg (1866–1929) vorgeführt habe, wie das kulturelle Gedächtnis die Zeit überdauern könne. Ich erwähne das hier, weil mich die mit an die tausend Bildern gefüllten Wände der beiden Haupträume der Ausstellung im S AM direkt an Warburgs «Mnemosyne Atlas» erinnerten: Gegen Ende seines Lebens schuf Warburg auf 63 Tafeln ein visuelles Referenzsystem, das auf Nachbarschaft und nicht auf Chronologie gründet. Seine Rekonstruktion des abendländischen Bildgedächtnisses zeigt auf, dass dieses Gedächtnis über Jahrtausende hinweg funktioniert. 

Archäologie als Grundlage für neue Architektur

Doch Erinnerung kann auch verschüttet werden. So entstehen normative Selbstbilder einer Gesellschaft auch durch Verdrängung oder komplexe Machtmechanismen. Womit wir wieder bei Tsuyoshi Tane sind. Mit seiner Methode der «archäologischen Ausgrabung» von Informationsschichten (die nicht zwingend materiell sein müssen) tut Tane genau das; er legt, um mit Warburg zu sprechen, die «mnemische Energie» – also das Gedächtnis – von Orten frei und lässt dieses in die Konzeption von Architektur einfliessen. Konkret heisst das, dass Tane und seine Mitarbeitenden bei einem Auftrag oder Wettbewerb zunächst eines tun: Bilder sammeln. Erst wenn diese Informationen aufgearbeitet sind, kann ein Entwurf entstehen. Bestes Beispiel dafür ist eines der frühen Bauwerke des Architekten, das Estonian National Museum in Tartu. Tsuyoshi Tane (*1979 in Tokio) gewann 2006 als blutjunger Architekt zusammen mit seinen damaligen Büropartnern Dan Dorell und Lina Ghotmeh den Wettbewerb. Nach Fertigstellung des Museums im Jahr 2016 gründete Tane schliesslich in Paris sein Atelier Tsuyoshi Tane Architects (ATTA). 

Estonian National Museum in Tartu, 2006–2016 (Foto: Eesti Rahva Muuseum, mit freundlicher Genehmigung von DGT)

Das mit «Memory Fields» betitelte Grossprojekt widerspiegelt die bewegte Geschichte des jungen Landes. Nachdem Estland 1991 seine Unabhängigkeit erklärt hatte, sollte das Nationalmuseum zu einem Symbol der Nation sowie zu einem Ort werden, der die vielfältigen Erinnerungen seiner Einwohner*innen bewahrt. Bei der Analyse der von der estnischen Regierung zur Verfügung gestellten Örtlichkeit fiel dem Team die nahe gelegene Landebahn eines ehemaligen Militärflughafens aus der Zeit der russischen Besatzung auf. Satt dieses «negative Erbe» zu verdrängen, schlugen die Architekt*innen vor, das zukünftige Gebäude genau dort zu errichten. Indem sie die frühere Militärbasis als Ausgangspunkt für das langgezogene Bauwerk nahmen, überführten sie den Ort in eine neue Zukunft. Das Gelände wird so zum Sinnbild der neu gewonnenen Unabhängigkeit. Oder mit Tanes Worten: «Architektur erzeugt die Zukunft». Geschichte bildet hier also im wahrsten Sinne des Wortes die Grundlage für ein neues Selbstbild. 

Ein Wald für Tokio

Nicht nur historische Bauwerke formen die Identität eines Ortes, auch Landschaften können einem Territorium einen unverwechselbaren Charakter verleihen. Sie versinnbildlichen das Zusammenwirken von Mensch und Natur. Tanes Chancen in die finale Runde zu kommen, waren zwar gleich Null – der junge Architekt und seine Partner beschlossen nichtsdestotrotz beim 2012 ausgeschriebenen Wettbewerb für das Stadion der Olympischen Sommerspiele 2020 von Tokio mitzumachen. Ihr Entwurf «Kofun Stadium» sah einen bewaldeten Hügel mitten in der Megacity vor! Es ging ihnen dabei nicht primär um eine «grüne» Idee, sondern der Ort und seine Geschichte standen wiederum Pate für das ungewöhnliche Bauwerk. Das Nationalstadion liegt in der Meiji-Jingu-Gaien-Anlage, einem Gelände am äusseren Rand des Meiji-Schreins. Während der innere Bezirk zu religiösen Zwecken genutzt wurde, war der Meiji-Jingu-Gaien-Wald früher ein Ort für kulturelle und sportliche Aktivitäten, was aber im Laufe der Zeit vergessen ging. Das Kombinieren der früheren Nutzung des Geländes mit der alten Bauweise der sogenannten «Kofun», traditionellen Hügelgrabstätten, die man in Japan an verschiedenen Orten findet, schafft ein doppeltes Erinnerungsbild und wirkt zugleich in die Zukunft. Die Bäume sollten aus ganz Japan kommen und wären von der Bevölkerung gepflanzt worden. Diese partizipative Geste verankert den Bau im kollektiven Gedächtnis und erzeugt ein lang andauerndes Narrativ, das zum Fortbestehen und Wiederbeleben von Städten beiträgt. Der Entwurf kam immerhin in die engere Auswahl. Und Kengo Kumas Stadion, das schliesslich realisiert wurde, ist nicht ganz so weit davon entfernt …

«Kofun Stadium», Entwurf für das neue Nationalstadion von Tokio, 2012 (Foto: mit freundlicher Genehmigung von DGT)

Die bemerkenswerte Arbeitsweise von Tsuyoshi Tane fasziniert auch Andreas Ruby, Direktor des S AM, und den Kurator Andreas Kofler. Nachdem «Archeology of the Future» bereits in Tokio und in São Paolo zu sehen war, holten sie die monographische Schau in die Schweiz. Die Ausstellung im S AM baut auf einer mehrschichtigen Präsentation auf. Eigens für die Schweizer Aktualisierung schuf Tsuyoshi Tane im ersten Saal eine ortsspezifische Skulptur aus Basler Baustellen-Fundstücken, die den Blick schärft für die Materia prima von Architektur. In zwei Räumen verteilt sind dreizehn riesige Modelle sowie Regale mit einer Fülle von Fundstücken, die den Prozesscharakter der Übersetzung der bildlichen in eine räumliche Dimension aufzeigen. Die Sammlung von Bildern an den Wänden veranschaulicht die Recherchearbeit von ATTA. In einem weiteren Ausstellungssaal können Besucher*innen dank einer immersiven Filminstallation fast physisch in die Bauten eintauchen. 

Beim Rundgang durch die Ausstellung benutzte der japanische Architekt, der für einen Vortrag Ende November eigens nach Basel reiste, mehrmals den Begriff Transformation. Ein Wort, das in der heutigen Architektur, die den Fokus tendenziell auf Kreation legt, eher Seltenheitswert hat. Tanes Architektur nimmt das Vergangene in sich auf, ohne es zu fetischisieren. Denn das würde zu einer rein bewahrenden Lesart von Vergangenheit führen – und damit wohl kaum zu solchen Bauwerken. Transformation ist die Einsicht in den Wandel, der Zukunft in einem stetigen Prozess hervorbringt. Das gilt auch für Architektur!

S AM-Ausstellungsfoto aus «Archaeology of the Future» (Foto © Tom Bisig)
Die Schau im S AM Basel dauert bis 28. Februar 2021. Am 14. Januar findet eine digitale Führung durch die Ausstellung auf Englisch, am 28. Januar auf Italienisch, am 11. Februar auf Japanisch und am 18. Februar auf Französisch statt. Auf dem Instagram-Account des S AM sind zudem kurze Videos mit Tsuyoshi Tane zu finden. Aktuelle Informationen zu den Führungen finden Sie hier.

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