Raum zur Einkehr

Thomas Geuder
21. janeiro 2014
Kirche als Piktogramm: Die Autobahnkirche Siegerland zeigt weithin sichtbar, was in ihr steckt. (Foto: ERCO)

Die Welt dreht sich gegenwärtig in einem gefühlt atemberaubenden Tempo und durchdringt per Computer und Smart-Phone jede Faser unseres Lebens, gewollt oder nicht, immer und überall. Kein Wunder, dass viele Menschen nach Nischen suchen, in denen sie dem Trubel entfliehen können, wo sie Ruhe finden und sich rückbesinnen können, wo ihnen niemand am Rockzipfel zu ziehen droht. Das kann zu Hause in der Badewanne sein, auf einer einsamen Berghütte oder, meist gar nicht weit entfernt: in einer Kirche. Kirchen sind Räume der Stille, Räume der Besinnung und des Befreiens vom alltäglichen Wahnsinn. Wer sich einfach mal ausklinken möchte, geht am besten in dorthin – und muss nicht unbedingt beten oder einer bestimmten Konfession angehören. Einfach nur dasitzen und die Welt draussen laufen lassen, rät unser guter Freund Otto Normalarchitekturfan. Das wird bei nächster Gelegenheit ausprobiert!


Was sakrale Räume besonders macht, ist ihre Atmosphäre, die bestimmt wird durch die Raumdimension, prägnante Formen, Materialien und das Licht. Beleuchtet sind die Räume meist von oben, wodurch der Mensch auf den Boden zurück geholt wird und ausserdem eine höhlenartige Geborgenheit vermittelt wird, die tief in jedem verankert ist als eine der grundlegendsten Raumerfahrungen. Schliesslich bot die «Höhlenwohnung» lange vor dem ersten, von Hand gebauten Haus Schutz vor Wind, Wetter und Gefahr.

Der Innenraum ist charakterisiert von einer scheinbar frei geformten Gitternetz aus OSB-Platten. (Foto: ERCO)

Den Architekten von schneider+schumacher war diese anthropologische Besonderheit sicherlich nicht unbekannt, als sie die Autobahnkirche Siegerland an der A45 – übrigens die 40. in Deutschland – entwarfen. Deren Innenraumcharakter ist geprägt von einer Holzkuppel aus 66 unregelmässig geformten Holzspanten aus 650 Einzelteilen, die ineinander gesteckt eine Raster-Struktur bilden, die stellenweise marklich an ein Kreuzrippengewölbe erinnert. Die freie Form wurde aus einer zunächst runden Kuppel generiert, die mit Öffnungen zum Eingang und zum Altar versehen und in den quadratischen Grundriss des umgebenden Baus eingepasst wurde. Es entsteht ein Raum, in dem man sich zurückziehen kann, ein Ort der Einkehr und Meditation. Die Felder zwischen den OSB-Platten des Innengewölbes werden gefüllt vom Licht, das von oben durch die beiden Ecktürme hineinfällt. So beleuchtet erinnert die Struktur nahezu an eine Tropfsteinhöhle – was thematisch dem sakralen Charakter zwar nicht entspricht, emotional aber das Geborgenheitsgefühl einer Höhle anspricht. Bei Dämmerung helfen Deckenfluter aus, die in einigen der Kuppelfelder installiert sind. Sie werfen ein warmweisses (3000 K), gestreutes Licht hinunter, das den Raum diffus und klar erleuchtet. Das Leuchtmittel ist ein LED-Modul, das sich bei Bedarf stufenlos dimmen lässt. Das reduzierte Design der ERCO-Leuchten aus Quader und Zylinder passt sich bestens in die Gestalt der Kuppel, die Kombination aus freier Form und geraden Holzspanten.

Am Eingang zum Parkplatz hin empfängt das Gebäude den Besucher mit einer umarmenden Geste. (Foto: ERCO)

Die äussere Gestalt des Bauwerks indessen komplettiert den Entwurfsgedanken des Innenraums: Hier spielen die Architekten von schneider+schumacher mit der unmissverständlichen Direktheit durch Zeichen und Schilder, die an Orten wie diesem herrscht. Ob Tanken, Essen oder Schlafen: Alles besitzt sein Signet und soll vom Autofahrer gefunden werden. So transportieren die Architekten das Verkehrszeichen-Piktogramm «Kirche» in die Dreidimensionalität, wodurch das Bauwerk in seiner Funktion schon von weitem als weisse Silhouette eines Kirchenraums erkennbar ist. Die äussere, sehr zeichenhaft gedachte Gestalt führt zudem zu einer räumlichen Erwartungshaltung, die im Inneren jedoch durch das frei geformte Gewölbe konträr überrascht wird. Aussen reduziertes, weiss strahlendes Piktogramm, innen geschmeidig geformter und warm erleuchteter Rückzugsraum: Das ist der richtige Ort für den modernen Wanderer und Pilger.

«Er hat seinen Engeln befohlen Dich zu behüten auf allen Deinen Wegen.» Mit diesen Worten betritt man das Gebäude durch eine einfache Glastür. (Foto: ERCO)
Im Innenraum ist das Licht neben dem Holz das wichtigste «Baumaterial». (Foto: Helen Schiffer)
Die Platten sind über Schlitze ineinander gesteckt, wodurch sich die Konstruktion selbst trägt. (Foto: Helen Schiffer)
Ist das natürliche Licht nicht ausreichend, hilft das künstliche Licht aus, das in einigen Deckenfeldern versteckt ist. (Foto: ERCO)
Lageplan
Grundriss Hauptgeschoss
Schnitt im Eingangsbereich
Schnitt im Altarbereich

Wegweiser der «modernen Pfade» sind heute unmissverständliche Piktogramme. (Foto: Autobahnkirche Siegerland e.V.)
Entwurfsskizzen (Quelle: schneider+schumacher)
Auch aus der Ferne sind bereits alle notwendigen Informationen zum Ort deutlich erkennbar. (Foto: ERCO)
Diese Auswahl deutscher Autobahnkirchen möchten wir Ihnen natürlich nicht vorenthalten. (Foto: Autobahnkirche Siegerland e.V.)
Projekt
Autobahnkirche Siegerland
Wilnsdorf, D

Hersteller
ERCO Leuchten GmbH
Lüdenscheid, D

Kompetenz
Optec
Beamer
Powercast
Parscoop

Architektur
schneider+schumacher Planungsgesellschaft mbH
Frankfurt am Main, D

Bauherr
Autobahnkirche Siegerland e.V.
Burbach, D

Projektteam
Michael Schumacher (Projektarchitekt), Hand Eschmann (Projektleiter), Kerstin Högel (Bauleitung), Alexander Volz, Ragunath Vasudevan, Elmar Lorey, Jana Heidacker

Tragwerksplanung und Bauphysik
B+G Ingenieure Bollinger und Grohmann GmbH
Frankfurt am Main, D

Haustechnik
rpb ingenieure GmbH
Köchingen, D

Vermessung
Dipl.-Ing. J. Seelbach
Siegen, D

Vergabeform
Wettbewerb 03/2009

Fertigstellung
2013

Fotografie
schneider+schumacher
Helen Schiffer
ERCO

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