Verantwortung übernehmen

Elias Baumgarten
18. abril 2024
Foto: Elias Baumgarten

Neben der Spüle türmt sich Geschirr, auf dem Esstisch stapelt sich Kinderspielzeug, aus den Wohnzimmerregalen quellen Bücher – die authentischen Bilder, die Roman Keller für das Buch «Social Loft» vom Écoquartier de la Jonction in Genf gemacht hat, haben so gar nichts von konventioneller Architekturfotografie. Ihr Reportagencharakter ist gewollt: Bewohnerinnen und Bewohner der 330 Wohnungen sollen sich die drei Häuser aneignen. Yves Dreier und Eik Frenzel, die Architekten der Anlage, wollten Gebäude gestalten, die ein breites Spektrum an Lebensweisen zulassen, in denen das Leben aufblüht.

Foto: Elias Baumgarten
Foto: Elias Baumgarten

«Social Loft» ist keine gewöhnliche Gebäudemonografie. Vielmehr ist das Buch eine umfassende Auseinandersetzung mit neuen Wohnformen und bringt zudem die Haltung der beiden Architekten aus Lausanne auf den Punkt. Meine Sympathie hatte es schon gewonnen, da hatte ich noch keine Zeile gelesen: mit seinem handlichen Format, mit seiner ästhetischen Gestaltung, mit der aussagekräftigen Bildstrecke – und durch seinen Umgang mit Sprache: Dem fragwürdigen Trend zum Englischen in der Schweiz folgt das Buch nicht, die Texte sind in den Landessprachen Deutsch oder Französisch abgedruckt. In einem eingelegten Heftchen finden sich Übersetzungen in die jeweils andere Sprache. 

Doch zum Inhalt: «Social Loft» beginnt mit einem starken Haltungstext von Yves Dreier und Eik Frenzel selbst. Die beiden beschreiben darin, wie kluges architektonisches Handeln einen Mehrwert für die Nutzenden, ja für die Gesellschaft als Ganzes schaffen kann: Gebäude sollen so entworfen werden, dass Menschen mit unterschiedlichsten Lebensentwürfen sie sich aneignen können. Keinesfalls soll die Nutzung streng vorgegeben sein. Als Architekten sehen sich Dreier und Frenzel in der Vermittlerrolle zwischen den vielen am Projekt beteiligten Personen. Wichtig ist den Westschweizern, mit ihrer Architektur den Gemeinschafts- und Kollektivsinn zu stärken und zugleich die Intimsphäre jedes Menschen zu schützen. Der formale Ausdruck hingegen ist für sie der «unbedeutendste Faktor beim Entwerfen einer an der Nutzung orientierten Architektur».

Foto: Elias Baumgarten

Fundament dieses kraftvollen Auftakts sind zwölf Beiträge, die sich mit dem Wohnen auseinandersetzen. Das Tolle ist, dass die Schreibenden aus unterschiedlichen Disziplinen und Fachbereichen stammen. Das eröffnet verschiedenste Perspektiven auf das Thema. Unter den anregenden Texten habe ich den von Irina Davidovici mit besonders grossem Interesse gelesen. In ihrem gehaltvollen und zugleich wunderbar kurzweiligen Beitrag zeigt sie, dass die Suche nach kollektiven Wohnformen, die alternative Formen des Zusammenlebens ermöglichen und überkommene Rollenverteilungen aufbrechen, kein neues Phänomen ist oder ein Produkt der 68er-Bewegung: Die Idee des gemeinschaftlichen Wohnens reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Gut erklärt der Text auch den bemerkenswerten Traditionszusammenhang zwischen Hausbesetzerszene und Genossenschaften in der Schweiz: Letztere haben die in den besetzten Häusern erprobten Strategien übernommen und für sich angepasst. 

Foto: Elias Baumgarten

Als besonders lesenswert empfunden habe ich auch das grosse Interview, das Yves Dreier und Eik Frenzel mit Regula Lüscher geführt haben. Zunächst spricht Berlins einstige Senatsbaudirektorin über ihre Zeit in Deutschlands Hauptstadt, die aus meiner Sicht nach wie vor eine der spannendsten europäischen Metropolen ist. Später kommt das Gespräch auf Lüschers Vorstellung vom künftigen Berufsbild Architekturschaffender – und tritt dabei in einen spannenden Dialog mit der Einführung des Buches: «Architektinnen und Architekten müssen künftig sehr gut kommunizieren können und die architektonischen Aspekte mit den Anforderungen der Nutzenden und der Gesellschaft zusammenführen», sagt sie zum Beispiel. Und: «Städtebau muss in einem Dialogprozess mit allen Beteiligten und den Bürgerinnen und Bürgern entwickelt werden. Das lernt man natürlich viel zu wenig an den Hochschulen.»

Mit ihrem Buch brennen Yves Dreier und Eik Frenzel ein Feuerwerk inspirierender Texte ab und exponieren sich mit ihrer klaren Haltung – Chapeau. 

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