Mit Sensibilität und Gestaltungswillen baute Gisela Schmidt-Krayer im Bestand. Dennoch ist sie vielen unbekannt
Eduard Kögel
2. novembro 2022
Gisela Schmidt-Krayer gestaltete mit Inken und Hinrich Baller den Kindergarten von Berghausen. Das Bauwerk wurde zwischen 1969 und 1972 realisiert. Allein in der Region konnte die Architektin 60 Bauten verwirklichen. (Modellfoto © Privatarchiv Gisela Schmidt-Krayer)
Während sich ihre Kollegen von postmodernen Formkapriolen verführen liessen, entwickelte Gisela Schmidt-Krayer aus lokalen Bautraditionen richtungsweisende Projekte. Doch beachtet wurde die deutsche Architektin bisher kaum.
Vor fünfzig Jahren starb Hans Scharoun (1893–1972), der in seiner Genialität immer auch etwas eigenbrötlerisch blieb. Nach dem Zweiten Weltkrieg unterrichtete er an der TU Berlin die Nachkriegsgeneration in seinem besonderen Architekturverständnis des Neuen Bauens, das von Frank Lloyd Wright inspiriert war. Daneben betrieb er sein eigenes Büro, in dem viele junge Architekt*innen arbeiteten. In einer Artikelserie stellt Eduard Kögel, ein Experte für deutsche und chinesische Architektur, einige seiner ehemaligen Mitarbeitenden und Studierenden vor, die aus unterschiedlichen Gründen in seinem grossen Schatten blieben.
Das Werkverzeichnis von Gisela Schmidt-Krayer umfasst nicht weniger als 213 Positionen. Hier eine Auswahl ihrer besten Bauten:
- Kindergarten in Berghausen, 1969–1972, in Zusammenarbeit mit Inken und Hinrich Baller
- Terrassenhäuser in Berghausen, 1970–1972, in Zusammenarbeit mit Inken und Hinrich Baller
- Anbau an die Otto-Bartning-Notkirche von Berghausen, 1974–1975
- Gemeindehaus von Engelskirchen, 1980–1982
- Fassadensanierung am Wasserschloss Ehreshoven, 1989–1990
- Produktionshalle in Kaiserau, 1990–1991
- Kindergarten in Marienheide, 1991–1993
- Umbau von zwei Bauernhäusern auf der süditalienischen Insel Alicudi, 1980–1998
Gisela Schmidt-Krayers Diplomentwurf für ein Freizeitdorf auf Sylt, 1965, Grundriss Erdgeschoss (© Privatarchiv Gisela Schmidt-Krayer)
Gisela Schmidt-Krayer (*1938) stammt aus einer Architektenfamilie: Schon ihr Grossvater, ihr Vater und auch ihr Bruder übten den Beruf aus. Unter ihrem Mädchennamen Gisela Rahne studierte sie zwischen 1957 und 1959 bis zum Vordiplom an der TH Stuttgart. Für ein Praktikum kam sie dann nach Berlin, wo sie unter anderem im Büro von Hans Scharoun arbeitete. Das Hauptstudium an der TU Berlin schloss sie im Juni 1965 bei Bernhard Hermkes (1903–1995) ab. In ihrer Diplomarbeit befasste sie sich mit einer Ferien-Volksschule auf Sylt. Bei diesem Entwurf kommt der Einfluss von Hans Scharoun besonders deutlich zum Tragen: Mit polygonalen Baukörpern und zusammengesetzten Strukturen schlug die junge Architektin eine gestaltete Landschaft aus Baukörpern vor, die sich in die Umgebung fügte und vielfältige Platz- und Hofsituationen einschloss. Die bei Scharoun entlehnte Idee eines Raumes in der Mitte der Anlage, der dem Bauensemble ein Zentrum geben sollte, finden sich aber nicht nur in der Diplomarbeit, sondern auch in anderen frühen Projekten der Architektin.
Der Kindergarten von Berghausen (Foto: Gerhard Ullmann © Bildarchiv Foto Marburg)
Kindergarten Berghausen, Grundriss Erdgeschoss (© Privatarchiv Gisela Schmidt-Krayer)
Wichtige Erfahrungen für eine junge ArchitektinParallel zum Studium arbeitete sie immer wieder in Scharouns Büro, wo sie zum Beispiel die Bauleitung für dessen Wohnung im Norden des Berliner Stadtteils Charlottenburg übernahm. Zwischen 1960 und 1963 plante das Büro Scharoun intensiv an seiner bekannten Philharmonie, dem ersten grösseren Gebäude des Teams nach dem Krieg. Dabei sammelte die junge Architektin wichtige Erfahrungen.
1966 zog sie – nach ihrer Hochzeit nun als Gisela Schmidt-Krayer – der Liebe wegen ins Oberbergische Land (Nordrhein-Westfalen), genauer in die Nähe der Kreisstadt Gummersbach, wo sie in den folgenden Jahren über 60 Projekte realisieren konnte. Insgesamt umfasst ihr Werkverzeichnis sogar 213 Positionen, darunter viele kleinere Eingriffe, Sanierungen und Erweiterungen. Bevor sie in die ländliche Region im Westen Deutschlands zog, besuchte sie als Gasthörerin Veranstaltungen bei Louis I. Kahn (1901–1974) in Philadelphia und besichtigte die Bauten von Frank Lloyd Wright (1867–1959), die ihre Auffassung von Architektur schliesslich wesentlich beeinflussen sollten.
Dieser Flurplan von Berghausen zeigt die Kita (1), die Wohnungen (2) und das Gemeindehaus (3) von Gisela Schmidt-Krayer. (© Privatarchiv Gisela Schmidt-Krayer)
Gisela Schmidt-Krayer entwarf Terrassenhäuser für Berghausen, die eine Alternative zu den üblichen Einfamilienhäusern aufzeigen sollten. Von dem Projekt wurde jedoch nur die erste Bauetappe mit 36 Wohnungen realisiert. Heute ist die Anlage in gutem Zustand erhalten. (Foto: Gerhard Ullmann © Bildarchiv Foto Marburg)
Terrassenhäuser Berghausen, Schnitt (© Privatarchiv Gisela Schmidt-Krayer)
Grosser Erfolg im Stillen – Gisela Schmidt-Krayers Bauten in BerghausenEines ihrer ersten realisierten Projekte war ein Kindergarten mit zwei Wohneinheiten in Berghausen, der zwischen 1969 und 1972 in Zusammenarbeit mit Inken und Hinrich Baller entstand. Die Kindertagesstätte (Kita) hat zwei Gruppenräume für je 30 Kinder sowie einen Gemeinschaftsraum, der eigentlich aus der Zusammenlegung der Verkehrsflächen entstand. Im dörflichen Kontext mit vielen zweigeschossigen Wohnbauten mit Satteldach fügt sich der Kindergarten erstaunlich gut zwischen die Hausgärten und die traditionelle Bebauung ein. In der Kita vermitteln vielfältige Beziehungen zwischen innen und aussen. Die individuellen Raumformen werden unter einem polygonalen, mehrfach geneigten Dach zusammengefasst. Die vielfältigen Raumerfahrungen stehen in starkem Kontrast zur ortsüblichen Bauweise, wie sie beispielsweise in der kastenförmigen Schule gleich nebenan zum Ausdruck kommt. Die für Scharoun typische Verbindung zwischen Landschaft und Architektur wurde bei diesem Projekt in einem kleinen Bau vorgeführt, der für das Dorf eine neue Erfahrung mit sich brachte.
Parallel zum Kindergarten entstand ein bemerkenswertes Wohnbauprojekt (1970–1972) am Ortsrand von Berghausen – ebenfalls in Zusammenarbeit mit Inken und Hinrich Baller. Eine Wohnbaugesellschaft beauftragte als Alternative zu den üblichen Einfamilienhäusern eine Anlage aus kompakten Terrassenhäusern am Hang mit insgesamt 80 Einheiten im sozialen Wohnungsbau. Realisiert wurde allerdings nur der erste Bauabschnitt mit 36 Wohnungen. Die Bauten sind nach Südwesten hin orientiert, der Ausblick richtet sich in ein Landschaftsschutzgebiet. Jede Wohneinheit hat eine mit einem Pflanztrog geschützte Gartenterrasse, die Privatsphäre ermöglicht. Die Materialien wurden in ortsüblicher Tradition verwendet, also beispielsweise Schieferschindeln für die Fassaden. Heute ist der ehemalige soziale Wohnungsbau in Eigentumswohnungen umgewandelt worden. Er befindet sich immer noch in einem sehr guten Zustand.
Nach den Plänen von Otto Bartning (1883–1959) entstand 1951 ebenfalls in Berghausen eine evangelische Notkirche des Typs «Diasporakapelle», von dem in Deutschland insgesamt 33 Exemplare gebaut wurden. Die Erweiterung dieses Bauwerks mit einem Gemeindehaus realisierte Gisela Schmidt-Krayer zwischen 1974 und 1975. Die Kirche selbst ist auf rechteckigem Grundriss erbaut, und als Erweiterung für das Gemeindehaus plante die Architektin einen ebenfalls rechteckigen Baukörper, den sie mit einem geschlossenen Hof von der Kirche trennte. Der Neubau ist ein mit Schiefer verkleideter Holzbau, der mit einem Pultdach im Kontrast zum asymmetrischen Satteldach der Kirche steht, die jedoch ebenfalls in lokaler Tradition mit Schiefer verkleidet ist. Im Gegensatz zur relativ geschlossenen Kirche ist der Anbau transparenter zur Landschaft, passt sich aber im Grundriss formal dem Bestandsbau an.
Zwölf Gemeindehäuser konnte Gisela Schmidt-Krayer im Oberbergischen Land entwerfen. Die Erweiterung der Anlage in Engelskirchen war dabei eine der kniffligsten Aufgaben. Weil sie als einzige vorschlug, den historischen Bestand zu erhalten, gewann sie den Wettbewerb – aus heutiger Sicht eine zukunftsweisende Entscheidung. (© Privatarchiv Gisela Schmidt-Krayer)
Gemeindehaus Engelskirchen, Lageplan (© Privatarchiv Gisela Schmidt-Krayer)
Funktionale Bauten im Stil des kritischen RegionalismusInsgesamt baute Gisela Schmidt-Krayer zwölf Gemeindehäuser im Oberbergischen Land, die als Ergänzungsbauten für die kirchliche Gemeindearbeit notwendig wurden. Das Gemeindehaus von Engelskirchen (1980–1982) war dabei anspruchsvoller und komplexer als viele andere. Auf dem Grundstück standen eine neogotische Kirche sowie ein Pfarrhaus und eine alte Schule, die symmetrisch zur Kirche an der Strasse den Eingang zum Ensemble rahmten. Eigentlich sollten die aus Stein gemauerten Gebäude des Pfarrhauses und der Schule abgerissen werden. Doch mit ihrem Entwurf für die Neukonzeption des Gemeindehauses erhielt die Architektin als einzige die beiden Bestandsbauten und nahm die neogotische Formensprache der Kirche beim Erweiterungsbau auf. Mit diesem Konzept gewann sie schliesslich den Wettbewerb, indem sie den Neubau zurückgesetzt anordnete und mit einer Art Kreuzgang mit den Bestandsbauten verband. Die Neubauten wurden in einer neogotischen Formensprache in Holz ausgeführt, die im Innenraum eine Vielzahl von Kuppeln entstehen liess. Das Dach und die Fassaden sind mit dunklen Schieferschindeln verkleidet.
Ihre Erfahrungen mit dem regionalen Bauen konnte Gisela Schmidt-Krayer bei einem Projekt auf der nördlich von Sizilien liegenden Insel Alicudi anwenden, wo sie zwei baufällige Bauernhäuser am Hang mit einfachsten Mitteln zu einem autarken Ferienhaus umbaute (1980–1998). Ende der 1990er-Jahre kam Gisela Schmidt-Krayer dann durch einen Zufall in die Gemeinde Melbu auf einer kleinen Insel in Nordnorwegen, wo sie über 20 Bauten errichten konnte. Wie zuvor schon im Oberbergischen Land orientierte sie sich dabei an der lokalen Bautradition und gestaltete die Neubauten unprätentiös im Kontext des Bestands.
Im norwegischen Melbu konnte Gisela Schmidt-Krayer 20 Bauten realisieren. Dieses Foto zeigt eine Anlage mit Studentenwohnungen. (Foto © Privatarchiv Gisela Schmidt-Krayer)
Emanzipation von den Ideen ScharounsGisela Schmidt-Krayer betrieb ihr Büro zwischen 1966 und 1998 in Hülsenbusch bei Gummersbach. Ab 1996 hatte sie parallel dazu auch ein Atelier in Berlin. Ab 1994 unterrichtete sie – zunächst als Gastprofessorin und ab 2000 als Honorarprofessorin an der GH Kassel sowie von 2000 bis 2008 am Lehrstuhl für Bauen im Bestand an der BTU Cottbus.
Von Anfang an befasste sich Gisela Schmidt-Krayer mit den lokalen Traditionen des ländlichen Bauens im Oberbergischen Land. Sie übernahm zum Beispiel sensibel den Einsatz lokaler Materialien wie Holz und Schiefer. Waren die Grundrisse ihrer frühen Projekte noch stark von den Ideen Scharouns geprägt, so emanzipierte sie sich später mehr und mehr davon. Ihre Auseinandersetzung mit Architektur und Baukultur führte zur Adaption der regionalen Bauweisen, wobei sie stets bewusst einen zeitgenössischen architektonischen Ausdruck entwickelte. Ihr grosser Respekt vor dem Vorhandenen und ihr Flair für die denkmalgerechte Restaurierung historischer Bauten führten sie von den architektonischen Landschaften ihres Mentors Hans Scharoun zu einem kritischen Regionalismus, der einerseits schon sehr früh in der Materialwahl zum Ausdruck kam und sich andererseits als Haltung auch auf andere Orte übertragen liess.
Dieser Schnappschuss zeigt Gisela Schmidt-Krayer auf der Baustelle von Hans Scharouns bekannter Philharmonie im Jahr 1961. Zu Beginn ihrer Karriere arbeitete sie immer wieder für Scharoun und übernahm dabei bereits in den 1960er-Jahren Verantwortung als Bauleiterin. (Foto © Privatarchiv Gisela Schmidt-Krayer)
Im ersten Artikel seiner Serie stellte Eduard Kögel Chen Kuen Lee vor. Der aus China stammende Architekt hatte ein bewegtes Leben und war überaus talentiert. Doch aufgrund seiner Homosexualität blieben ihm viele Türen verschlossen. Für Hans Scharoun indes war er ein wichtiger Diskussionspartner, von dem der Meister sehr profitierte.
In einem zweiten Beitrag rückte Eduard Kögel Stephan Heise ins Rampenlicht. Der deutsche Architekt schuf eine Vielzahl überzeugender Bildungsbauten. Trotzdem wurde er von der Architekturkritik verschmäht.