Die Grazie der Schwerkraft
Susanna Koeberle
31. janeiro 2019
Die Engadin Art Talks fanden dieses Jahr zum 9. Mal in Zuoz statt. Bild: zvg
Die achte Ausgabe der Engadin Art Talks (E.A.T.) zelebrierte die Kraft der Anmut.
Das Thema der achten Ausgabe der Engadin Art Talks lautete Grace & Gravity. Die geladenen Rednerinnen und Redner aus unterschiedlichen Disziplinen schienen alle damit etwas anfangen zu können, auch wenn der direkte Bezug zum Engadin nicht gerade offensichtlich war. In früheren Ausgaben hoben die Organisatoren den Link zum alpinen Hochtal besonders hervor. Mittlerweile hat der Anlass eine noch internationalere Dynamik entwickelt als in seinen Anfängen – und das Engadin als Kunstdestination auch. Das Thema war trotz fehlender örtlicher Verankerung gut gewählt. Es sieht so aus, als ob Grazie heute Mangelware wäre. Doch paradoxerweise sind Grazie und Anmut gerade im Zeitalter des schönen Scheins ein Skandalon. Wer will schon mit «anmutig» betitelt werden? Und dennoch: Hässlichkeit ist schwer zu ertragen. Anmut (bzw. Grazie) ist ein Versprechen, das irgendwie attraktiv bleibt – und inspiriert.
Das Motto der diesjährigen E.A.T. war auch ein Tribut an die Philosophin Simone Weil. Bei der Begrüssung verwies Hans Ulrich Obrist auf ihr Buch «La Pesanteur et la Grâce», eine Sammlung posthum erschienener Schriften. Diese animierten auch Thomas Hirschhorn zur Lektüre. Als Beweis dafür zog der erste Redner der E.A.T. das Büchlein aus der Jackentasche. Er verfasste für das Programmheft des Events auch einen schönen Text dazu. Darin erinnert Hirschhorn in den Worten Weils an die Tatsache, dass Grazie den leeren Raum fülle. Zugleich könne sie nur dort eintreten, wo es eine Leere gebe, die sie empfange. Sie erzeuge diese sogar erst. Dieses etwas esoterische Vokabular verwirrt zunächst. Doch was Grazie für Normalsterbliche bedeuten kann und wie stark sich gerade Künstlerinnen und Kreative von dieser Idee inspirieren lassen, zeigte sich im Verlauf der E.A.T. sehr schön.
Die Kuratoren Philip Ursprung, Daniel Baumann, Bice Curiger und Hans Ulrich Obrist mit der Veranstalterin Cristina Bechtler. Bild: zvg
Kunst öffnet Tore
Dass Hirschhorn in diesem ersten Beitrag so persönlich von seiner Arbeit sprach, hatte etwas Berührendes. Es ging in seinen Ausführungen um diese für ihn zentralen Momente, in denen ein Austausch mit Menschen geschieht – sowohl mit Betrachtern und Betrachterinnen als auch mit Leuten, die er in seine Installationen einbezieht. In seinen neueren Arbeiten setzt sich Hirschhorn mit dem öffentlichen Raum und seiner Nutzung auseinander. Auch bei Arbeiten mit sozialer Dimension bleibt er aber Künstler und mutiert nicht zum Sozialarbeiter. Denn nur so könne ein Austausch auf Augenhöhe entstehen. Das sei «harte Arbeit», wie er bemerkte. Dennoch macht Thomas Hirschorn keine Fingerzeigekunst. Er schafft es, Stellung zu beziehen, ohne elitär zu sein. Das ist eine beachtliche Leistung. Grace entsteht offenbar dort, wo Kunst sich öffnet für die Banalität und Hässlichkeit des Alltags, für die Bedürfnisse aller. Im Kontext der «Top of the World Destination» und in Anbetracht des arty and/or wealthy Publikums mutete dies fast etwas zynisch an. Grazie allerdings kennt keine Hierarchien, denn man kann Grazie nicht erzwingen, sie stellt sich ein. Erinnern wir uns an Weils absichtslose Leere. Sie ist auch nicht mit Schönheit gleichzusetzen, diese kann man nämlich bewusst anstreben.
Die Künstlerin Isabel Nolan. Bild: zvg
Zwischen Grazie und Schwerkraft
Kann diese Kategorie auch für Architektur gelten? Ist sie relevant für Architekten? Würden wir etwa von einem «anmutigen» Gebäude sprechen? Oder geht es in der Architektur eher um den etwas nüchternen Gegenbegriff der Schwerkraft (Gravity)? Doch auch Architekten träumen Träume. Mit ihren Bauten fordern sie zuweilen die Schwerkraft heraus. Entsteht dann Grace? An den E.A.T. gab es sowohl von Künstlerseite her wie auch aus architektonischer Perspektive Annäherungen an Fragen, die den gebauten Raum betrafen.
So sprach der als Architekt ausgebildete Künstler Tomás Saraceno über seine räumlichen Gebilde. Bekannt sind vor allem seine spinnwebartigen Konstrukte, an den E.A.T. stellte er sein multidisziplinäres Projekt «Aeroscene» vor. Die in der Luft schwebenden Skulpturen visualisieren das Anbrechen einer neuen Ära, in welcher der «homo flottantis» geboren wird. Saracenos Utopie geht noch weiter: Er fand, man solle in Zukunft Ameisen den Nobelpreis verleihen können. Wird wohl noch eine Weile dauern, aber lernen können wir sicher viel von diesen intelligenten Tieren – auch was die Organisation von Raum betrifft.
Der brillanteste Beitrag war die Lesung der irischen Künstlerin Isabel Nolan. Ihr Vortrag hatte Tiefgang und war dennoch eine Performance für sich. Sie las schnell, aber deutlich, verstand es, den Rhythmus gekonnt zu variieren und das Publikum zu packen. Das duale Paar Grace & Gravity übertrug sie auf die Raumkoordinaten Horizontalität und Vertikalität. Während das Liegen in ihren Augen stets «als Scheitern von Kontrolle» verstanden wird, steht der aufrechte Gang für die Kontrolle des Menschen über das Tier durch sein Denken. Um diese komplexe philosophische Frage zu erörtern, nahm sie auf verschiedene Kunstwerke Bezug. Etwa auf die «Löwenmensch»-Skulptur, einem jungpaläolithischen Artefakt aus Mammutelfenbein, das sie in einer Ausstellung im British Museum gesehen hatte. Mit weiteren Beispielen machte sie deutlich, wie Kunst Hierarchien (etwa die zwischen Grace & Gravity) aufbrechen und in Frage stellen kann.
Die Architektin Elizabeth Diller vom New Yorker Büro Diller Scofidio + Renfro. Bild: zvg
Flexible Architektur
Kann das auch Architektur gelingen? Zwei Architektur-Positionen (Arno Brandlhuber sagte leider seinen Auftritt ab) versuchten, darauf zu antworten. Wobei die amerikanische Architektin Elizabeth Diller (von Diller Scofidio + Renfro) ihren chilenischen Kollegen Smiljan Radic inhaltlich in den Schatten stellte. Trotz technischer Panne, die sie in entspannter New Yorker Manier sehr cool handhabte. Zum Einstieg zeigte sie ein Video eines Zero gravity-Flugs, an dem sie teilnehmen konnte. Mit einer Prise Humor erzählte sie von dieser aussergewöhnlichen persönlichen Erfahrung. Erst danach brachte sie die architektonische Arbeit des Büros zur Sprache. Ausgehend vom ersten realisierten Bau des New Yorker Büros, dem «Blur Building» für die Expo 2002, sprach sie von Architektur als Instrument. Ihre Aufgabe sei das Schaffen von flexiblen Infrastrukturen. Das New Yorker Kulturzentrum «The Shed», das Anfang April eröffnet wird, ist bestes Beispiel dafür. Das Gebäude soll zum Ort künstlerischer Produktion und zugleich ihrer Rezeption werden. Die raffinierte und dank Rädern einfach verschiebbare Hülle des Baus ermöglicht die Verdoppelung des Volumens in kürzester Zeit. So geht Innovation dank Flexibilität. Diese Offenheit im Entwerfen von Bauten kann durchaus als Strategie zur Überwindung von festgefahrenen Mustern in der Architektur verstanden werden. Und lässt Grace und Gravity koexistieren.