Innovative Architektur gegen den Arbeitskräftemangel in einem Bergdorf
Daniela Meyer
14. setembro 2023
Das einstige Hotel «Crusch Alba» in Lavin, hier auf einer historischen Aufnahme, steht heute leer. Gemeinsam mit Hans Schmid möchten es Marianne Baumgartner und Luca Camponovo zu einem Wohnhaus umgestalten. (Foto: Donat Caduff)
Mit einem ungewöhnlichen Umbau wollen Camponovo Baumgartner urbane Wohnformen ins Unterengadin bringen und damit den Mangel an Erstwohnungen bekämpfen. Derzeit suchen sie nach finanzieller Unterstützung für die Transformation des ehemaligen Hotels «Crusch Alba».
Beim Namen «Piz Linard» denken die einen an den Berggipfel, die anderen an das gleichnamige rosafarbene Hotel am Dorfplatz von Lavin. Weniger bekannt ist das «Crusch Alba» – zu Deutsch «Weisses Kreuz» – am Dorfeingang, bis vor ein paar Jahren die einzige Konkurrenz im Ort. Inzwischen hat das zweite Hotel geschlossen und das grosse Engadinerhaus mit den dicken weissen Mauern steht leer. Gleichzeitig fehlt es dem Dorf sowie dem einzigen verbliebenen Hotelbetrieb an Platz: an preisgünstigem Wohnraum für Arbeitnehmende sowie an Gästezimmern für die Durchführung grösserer Anlässe im «Piz Linard». Dabei mangelt es dem Dorf mit seinen rund 200 Einwohner*innen nicht an bebautem Raum: «Was fehlt, sind erschwingliche Mietwohnungen. Es gibt zwar viele grosse Häuser, doch bei den Erstwohnungen sind Teile davon häufig ungenutzt und die Zweitwohnungen stehen die meiste Zeit vollständig leer», erklärt der Architekt Luca Camponovo. Ohne das passende Wohnangebot ist es schwierig, die dringend benötigten Arbeitskräfte in den Bereichen Tourismus, Landwirtschaft, Gewerbe oder Verwaltung zu finden. Nur wenn diese eine bezahlbare Bleibe im Tal finden, kann es gelingen, sie in das kleine Bergdorf zu locken.
Es war ein gemeinsamer Freund, der den beiden Zürcher Architekturschaffenden Marianne Baumgartner und Luca Camponovo von der Idee Hans Schmids erzählt hat: Das «Crusch Alba» kaufen und darin die fehlenden Räume unterbringen; in erster Linie Wohnraum für Personen, die aufgrund ihrer Arbeit nach Lavin ziehen möchten, als Ergänzung flexibel nutzbare Gästezimmer, die das Angebot des Hotels «Piz Linard» bei Bedarf vergrössern. Hans Schmid hat dieses 2007 übernommen und seither eine einzigartige Institution daraus gemacht, die sich nicht nur unter Tourist*innen grosser Beliebtheit erfreut, sondern auch zu einem Begegnungsort für die Einheimischen geworden ist.
Berührt vom einmaligen Charakter des einzigen verbliebenen Hotels, des Dorfes und von den Menschen, die es prägen, hat das Architektenduo gemeinsam mit Hans Schmid begonnen, eine Vision für das «Crusch Alba» zu entwerfen. Sie möchten daraus ein Haus machen, das gemeinschaftlich verwaltet und bewohnt wird. Deshalb gaben sie dem Projekt den Namen «Chasün», abgeleitet aus den beiden rätoromanischen Wörtern «Chasa» und «Cumün». In den grossen Räumen des Erdgeschosses sollen sich zukünftig Bewohner*innen, Hotelgäste und Leute aus dem Dorf begegnen. An die zentrale Eingangshalle grenzen auf der einen Seite eine grosse Küche und ein Ess- und Aufenthaltsraum. Aus den beiden Wirtsstuben auf der gegenüberliegenden Seite entstehen flexibel nutzbare Räume mit öffentlichem Charakter, die für Zusammenkünfte von lokalen Vereinen, für Büro-Retraiten oder Workshops zur Verfügung stehen. Ebenfalls im Erdgeschoss befindet sich die grösste der vier geplanten Erstwohnungen. Aus dem ehemaligen Heuboden wird eine hallenartige Wohnung, die im Selbstausbau realisiert werden könnte und beispielsweise Platz für eine Wohngemeinschaft bietet. Zwei weitere Einheiten liegen im ersten Obergeschoss. Die kleinere verfügt über ein attraktives Eckzimmer, die grosse ist in der ehemaligen Garage und Wäscherei angeordnet und öffnet sich zum Garten. Die vierte Wohnung ist als Maisonette ausgebildet und verfügt im zweiten Obergeschoss über drei kleine Zimmer. Hier gäbe es Platz für eine Familie.
Grundriss Erdgeschoss (© Camponovo Baumgartner)
Grundriss 1. Obergeschoss (© Camponovo Baumgartner)
Grundriss 2. Obergeschoss (© Camponovo Baumgartner)
Allen Wohnungen gemeinsam sind die minimal ausgebildeten Küchen und die grosszügigen Badezimmer. Merkmale, die deutlich vom standardisierten Wohnungsbau abweichen. «Wir liessen uns von der Hoteltypologie beeinflussen», meint Luca Camponovo zu dieser Besonderheit. «Die Badezimmer sind private Räume, die den Bewohnenden, die häufig physisch anspruchsvolle Arbeiten leisten, Rückzug und Komfort bieten.» Auch das Kochen im Privaten soll möglich sein, doch aufgrund der Gemeinschaftsküche im Erdgeschoss können diese Bereiche reduziert werden. Weiter gibt es im Haus zwei Studios und sieben Gästezimmer.
So entsteht ein vielfältiges Angebot, das sich flexibel an die unterschiedlichen Bedürfnisse des Dorfes und des Hotels anpassen lässt. Auf die Frage nach der Motivation, an diesem Projekt mitzuarbeiten, antwortet der Architekt: «Die Arbeit an diesem Pionierprojekt ist sehr spannend. ‹Chasün› bietet die Möglichkeit, eine gemeinschaftliche Wohntypologie, wie sie heute meist in Städten anzutreffen ist, zu transformieren und in ein Bergdorf zu bringen.» Im Gegensatz zu einem Architekturwettbewerb können die Architekturschaffenden das Programm selbst mitgestalten und das Potenzial eines Umbaus des «Crusch Alba» ausloten – ein zentrales Thema in der Arbeit von Camponovo Baumgartner. Der Um- und Ausbau des ehemaligen Hotels soll radikal und einfach sein, um die Baukosten sowie die Mieten möglichst tief zu halten.
Nun gilt es, diese Vision in die Tat umzusetzen, und dafür muss erst das notwendige Kapital gesammelt werden. Das heute labyrinthartig erscheinende und mit Zimmern vollbepackte «Crusch Alba» soll erworben und mittels eines sehr günstigen Umbaus von seiner Schwere befreit werden. Deshalb suchen die drei Initiant*innen des Projekts nach Geldgeber*innen, welche die Notwendigkeit von «Chasün» erkennen und an dessen Potenzial glauben. Gelingt es, bis Ende Oktober die notwendigen Mittel aufzutreiben, wäre dies nicht nur ein wichtiger Meilenstein für die Weiterentwicklung des Hotels «Piz Linard», sondern für eine ganze Dorfgemeinschaft. Und vielleicht wird das Projekt seinen Nachbar*innen eines Tages vor Augen führen, welches Potenzial in ihren leer stehenden Häusern schlummert.
Mehr Informationen zum Projekt «Chasün» finden sich unter dorfwohnen.ch.