Freie Sicht auf den Zürichsee!
Susanna Koeberle
2. setembro 2021
Vom Konzertfoyer aus haben die Besucher*innen wieder freie Sicht auf den See. (Foto: Markus Bühler)
Die Sanierung des Kongresshaus-Tonhalle-Ensembles ist abgeschlossen. Die Instandsetzung der denkmalgeschützten Bausubstanz nahm vier Jahre in Anspruch. Die Arbeit hat sich gelohnt, wie sich bei einer ausgedehnten Führung zeigt.
Man kann Gebäude auch kaputt renovieren. Unter dem Vorwand, die Bauten zu erweitern oder zu «optimieren» – das heisst nicht, dass die Absicht dahinter per se schlecht ist –, wurden auch beim historisch gewachsenen Ensemble von Kongresshaus und Tonhalle in den 1980er-Jahren Eingriffe vorgenommen, die dessen Charakter nicht gerade zuträglich waren. Dadurch ging nicht nur die Sicht auf den Zürichsee verloren, auch der Blick auf die beachtliche architektonische Qualität des Kongresshauses wurde verstellt. Ein paar Jahrzehnte später hätte der in die Jahre gekommene Bau gar einem neuen Kongresszentrum weichen sollen. Lange war nicht klar, ob das in den 1930er-Jahren von der Architektengemeinschaft Haefeli Moser Steiger entworfene Kongresshaus überhaupt bestehen bleiben würde.
Nachdem der geplante Neubau von Rafael Moneo – bei dem die Tonhalle integriert worden wäre – 2008 vom Stimmvolk abgelehnt worden war, entschied der Stadtrat einige Jahre darauf, auf Neubaupläne zu verzichten und gab eine Machbarkeitsstudie für eine Instandsetzung in Auftrag. Schliesslich wurde 2017 unter der Leitung der Arbeitsgemeinschaft Boesch Diener (Elisabeth und Martin Boesch aus Zürich sowie Diener & Diener aus Basel) die Gesamterneuerung in Angriff genommen. Besitzerin der Liegenschaft ist die Stadt Zürich, Bauherrin die 2017 neu gegründete öffentlich-rechtliche Kongresshaus-Stiftung.
Eine Ikone der Moderne lebt neu auf. (Foto: Georg Aerni)
Fiat LuxDie präzise und aufwendige Instandsetzung macht die ursprüngliche Qualität dieser Ikone sicht- und erlebbar. Die markanteste bauliche Änderung ist die Entfernung des Panoramasaals; dieser Eingriff gibt die Sicht vom Konzertfoyer der Tonhalle über die grosse Terrasse auf den See und die Berge frei. Diesen Blick kann man auch vom neu eröffneten Restaurant «Lux» aus geniessen. Das Projekt von Jasmin Grego und Stephanie Kühnle ist wunderbar unzürcherisch, womit ich nicht das Zürcherische schlechtmachen, sondern den Mut zum Experiment loben will. Der offene Raum wird durch riesige, farbige Halbkreise aus massivem Glas gegliedert, die das Licht durch den Raum fliessen lassen. Überhaupt stehen bei diesem Umbauprojekt die Themen Offenheit und Licht im Zentrum – denn diese charakterisieren auch das Bauwerk von 1939.
Auch beim Tonhalle-Vestibül haben die Architekt*innen die «meisterhafte Lichtführung» (so Elisabeth Boesch) wiederhergestellt. Der Durchblick von Strasse zu Strasse kreiert einen erweiterten öffentlichen Raum. Mit seinem ornamentalen Bodenbelag und den Rankenleuchten hat dieser Bereich eine fast südländische Anmutung, die gestreiften Vorhänge von Albert Kriemler nehmen diese Stimmung gekonnt auf. Der alte Gartensaal, der sich früher direkt unter dem Panoramasaal befand, wurde zum Gartensaalfoyer. Als Reverenz an den Garten ist ein kleiner Innenhof geblieben, der zusätzliches Licht in den Raum bringt. Pflanzen in Räume und Zwischenräume zu integrieren, war schon damals Mode, heute hat dieser «grüne Faden» eine ganz neue Bedeutung. Ein Ziel der Renovation war auch, die Raumvolumen zu unterteilen und dadurch flexibler zu machen. Auf diese Weise können die Räume gleichzeitig für unterschiedliche Veranstaltungen genutzt werden. Die Diversität an architektonischen Themen und die Zahl der Räumlichkeiten ist schlichtweg beeindruckend. Durch die Gesamtsanierung wird diese Vielfalt wieder zu einem Ganzen zusammengefasst.
Der Kongresssaal ist über elf Meter hoch und bietet mehr als 1500 Personen Platz. (Foto: Markus Bühler)
Symbiose zwischen Kunst und ArchitekturDrei künstlerische Interventionen thematisieren indirekt den Umgang des Ensembles mit Ornament und Dekoration. Die ortsspezifischen Arbeiten von Josef Felix Müller an der Fassade des neuen Gartensaals, die Textilien von Albert Kriemler sowie das grosse Blumenfenster von Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger sind beste Beispiele dafür, wie gut es gelingen kann, Kunst nicht als nachträgliche Behübschung «einzusetzen», sondern als integralen Bestandteil von Architektur. Mit dem Titel «Maskenball der Biodiversität» nimmt das Künstlerduo auf die Geschichte des Ortes Bezug – etwa auf die legendären Künstler-Maskenbälle, die in den 1950er-Jahren im Kongresshaus stattgefunden haben. Biodiversität ist heute in aller Munde, Steiner & Lenzlinger leben sie gleichsam durch ihre Kunst. Seit 1997 arbeiten die beiden als Duo und haben eine grosse Zahl erfrischend schräger Werke geschaffen, die sich mitunter auch transformieren. Für ihre Installationen verwenden sie oft Kunststoffkristalle, die man sonst als Dünger braucht.
Die Kristalle aus künstlichem Harnstoff wachsen und bilden abenteuerliche Formen, die in Kombination mit allerlei exotischen Objekten, Pflanzen sowie einem fantastischen Bestiarium eine Hommage an das Leben, die Fruchtbarkeit und die Vergänglichkeit darstellen. «Restez fertile» (bleibt fruchtbar) lautet der Aufruf von Steiner & Lenzlinger. Das vielgestaltige Kuriositätenkabinett wird sich transformieren, denn zweimal jährlich werden die Kristalle mit einer Nährlösung «gefüttert»; das Künstlerpaar orchestriert eine Art kontrollierte Verwilderung. Der Schaukasten «Maskenball der Biodiversität» schafft eine Beziehung zwischen Innen- und Aussenraum und nimmt damit das Grundthema des Baus auf. Die Installation spielt bewusst mit konkreten Bezügen und lässt diese gleichsam spielerisch weiter wuchern: Das Kunstwerk geht eine im wahrsten Sinne des Wortes fruchtbare Symbiose mit seiner Umgebung ein. Die Eingriffe von Vogt Landschaftsarchitekten nehmen sich dazu vergleichsweise brav aus. Immerhin durfte die wunderschöne Schwarzföhre stehen bleiben.
Das Blumenfenster schafft eine Verbindung zwischen innen und aussen. (Foto: Georg Aerni)
AufgerüstetPflanzliche oder zumindest organische Motive prägen auch das Foyer der Tonhalle. Das wunderschöne Sgraffito mit dem wellenförmigen Gittermuster konnte erhalten werden. Und auch der grosse Tonhallesaal erstrahlt in neuem Glanz. Ein neues Farbkonzept betont die neue Goldschicht, ohne allerdings allzu prunkvoll zu wirken. Die Architekten haben die Bühne vergrössert und den historischen Saal aus dem Jahr 1895 auch technisch aufgerüstet. Knifflig war die Sache mit der Deckenleuchte, denn es zeigte sich, dass die Decke statisch am Limit war. Für die Abklärungen in der Tonhalle und im Kongresshaus wurde der bekannte Bauingenieur Jürg Conzett beigezogen. Ihn habe die ganze Deckenkonstruktion des Kongresshauses auch aus historischer Perspektive interessiert, wie er bei der Führung vor Ort sagte. Er verglich den Bau mit einem Schiff, der Baugrund sei nämlich weich. Alle beteiligten Spezialist*innen scheinen berührt zu sein vom Resultat des Umbauprozesses. Die Liebe und der Respekt zu diesem Bauwerk seien gewachsen, sagte Roger Diener beim Rundgang durch die Räume. Eine fast emotionale Aussage, die Seltenheitscharakter hat, wenn es darum geht, das Werk eines (oder einer) anderen zu beurteilen.