Eine Reise in die (Bau)Geschichte: Zu Besuch in Mümliswil

Manuel Pestalozzi
26. setembro 2024
Vom Kinderheim blickt man über die Häuser des Dorfes hinweg auf die bewaldeten Hänge des Faltenjuras. (Foto: Manuel Pestalozzi)

Von Süden her erreicht man Mümliswil, ein solothurnisches Dorf im Faltenjura, über Oensingen und Balsthal. Der Weg führt durch zwei dramatische Juraklusen. Hinter der Ortschaft steigt die Passwangstrasse an, ein Übergang ins Tal der Birs und weiter in Richtung Basel. Anfang der 1930er-Jahre wurde sie umgestaltet und erhielt einen neuen Verlauf mit kurzem Scheiteltunnel – eine Arbeitsbeschaffungsmassnahme in Zeiten der Weltwirtschaftskrise. An der alten Strasse indes wurde 1939 ein Ferienheim eröffnet, gestiftet von Pauline und Bernhard Jäggi, einem philanthropisch tätigen Paar aus Basel. Bernhard Jäggi war langjähriger Leiter des Verbands der Schweizerischen Konsumvereine, heute Coop. Er gilt als einer der wichtigsten Förderer der Genossenschaftsbewegung in der Schweiz und als Initiator der genossenschaftlichen Siedlung Freidorf in Muttenz. Realisiert zwischen 1919 und 1923, verkörpert das Freidorf das Frühwerk des späteren Bauhausdirektors Hannes Meyer (1889–1954).

In dieser Luftaufnahme von 1957 ist das Kinderheim am oberen linken Bildrand zu erkennen. Es ist über die alte Passwangstrasse erschlossen. (Foto: Werner Friedli, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Stiftung Luftbild Schweiz)
Bauen für bedürftige Kinder

Jäggi, der Hannes Meyer also bereits kannte, beauftragte den berühmten Architekten 1936 mit dem Ferienheim – kurz nach dessen Rückkehr aus der Sowjetunion, wo er als Lehrer und Städteplaner tätig gewesen war. Eigentlich hatte Meyer gar nicht in der Schweiz bleiben wollen, vielmehr zog es ihn nach Spanien. Doch der Bürgerkrieg durchkreuzte seine Pläne. Stattdessen wurde Meyer 1939 Direktor des neu gegründeten Instituts für Städtebau und Planung in Mexiko-Stadt. Die bei seinem Zwischenstopp in der Schweiz entstandene Anlage in Mümliswil wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die 1970er-Jahre auch als permanenter Aufenthaltsort für fürsorgerisch betreute Kinder genutzt. Anschliessend diente sie Coop als Ort für Schulungen. Nachdem das Heim in den Besitz der Gemeinde Mümliswil übergegangen war, kaufte es 2011 die Guido Fluri Stiftung, die sich gegen Gewalt an Kindern engagiert, und machte es zur nationalen Gedenkstätte für Heim- und Verdingkinder. Der Stiftungsgünder Guido Fluri verbrachte in seiner Kindheit selbst Zeit in Mümliswil.

Im in Sichtbackstein ausgeführten Teil des Ostflügels waren die Waschräume untergebracht. Unter den Schlafräumen daneben öffnet sich ein gedeckter Spielplatz. Die Rotunde im Bildhintergrund war ursprünglich eingeschossig. (Foto: Manuel Pestalozzi)

Auf Anmeldung kann man die Gedenkstätte besuchen. Der Weg zu ihr ist steil. Er endet auf einem Hof, der von zwei rechtwinklig zueinander angeordneten Bauten gefasst wird. Der eine steht teils auf fächerförmigen Stützen, sodass ein Durchblick ins bewaldete Bergland ringsherum freigegeben wird. Es zeigt sich, dass das Gebäude, ein gut proportionierter, funktionalistischer Mischbau, teils massiv, teils in Holz ausgeführt, noch weitgehend im Ursprungszustand ist. Historische Fotografien bestätigen das. Einzig die eingeschossige Rotunde mit Sonnenterrasse, eine Art Scharnier zwischen den Flügeln, wurde aufgestockt. 

Meine Begleiterin von der Stiftung erzählt auf dem Weg, dass sich Hannes Meyer bei der Planung freie Hand ausbedungen hatte. Ihm sei das Projekt ein besonderes Anliegen gewesen, habe er doch als Halbwaise selbst einige Jahre in einem Heim verbracht. So entsprechen Dimensionen und Masse etwa der Treppenstufen der Grösse eines Kindes. Es war Meyer auch wichtig, dass jedes Kind einen eigenen Spind und somit ein Minimum an Privatsphäre hatte. Im Erdgeschoss der Rotunde steht noch immer der ringförmige Tisch, den der Baumeister für den Bau entworfen hat. Für die Erwachsenen, die hier später Coop-Schulungen besuchten, wurde er lediglich mit Untersätzen aufgebockt.

Der ringförmige Tisch in der Rotunde wurde von Hannes Meyer entworfen. Untersätze bringen ihn auf Erwachsenenhöhe, gedacht ist das Möbel nämlich eigentlich für Kinder. (Foto: Manuel Pestalozzi)
Ein kurioses «kindergerechtes» Detail ist diese Haltestange. Sie diente dazu, sich auf dem Wandversatz über der Treppe zu stellen und durch die Fenster in den Hof zu gucken. (Foto: Manuel Pestalozzi)

Die Schlafräume im Obergeschoss reihen sich entlang des zum Hof orientierten Korridors. Die kleinen Säle mit je sechs Betten wurden später in Einzel- oder Zweierzimmer mit einem Waschtisch unterteilt. Die Wände verkleidete Hannes Meyer mit Birkensperrholz, wie ich bei meiner Führung erfahre. Die Atmosphäre wirkt minimalistisch, sie erinnert eher an eine Jugendherberge oder eine Berghütte als an einen Ort, an dem Kinder permanent untergebracht sind. Immerhin wurde das Heim bereits mit einer Zentralheizung ausgestattet. 

Die Räume im Obergeschoss wurden mit Birkensperrholz verkleidet. Sie wirken in ihrer Ausgestaltung sehr einfach, erinnern an eine Jugendherberge oder Berghütte. Allerdings verfügte das Heim bereits über eine Zentralheizung. (Fotos: Manuel Pestalozzi)

Die Gedenkstätte ist in einem Ausstellungsraum neben der Rotunde untergebracht. Fotos erinnern dort an das traurige Schicksal von Kindern, die über Institutionen in Heimen untergebracht wurde. In Mümliswil möchte man Betroffenen Gelegenheit geben, sich in einem diskreten und freundlichen Rahmen mit ihren oft sehr traumatischen Erinnerungen auseinanderzusetzen. 

Leider gehören schwer zu verarbeitende Kindheitserinnerungen nicht der Vergangenheit an: Auch heute sind weltweit viele junge Menschen mit schlimmen Gewalttätigkeiten, Übergriffen und sogar Kriegshandlungen konfrontiert. Die Trägerschaft der Gedenkstätte leistet ihren Beitrag zur Unterstützung der Betroffen: Sie organisiert in ihrem denkmalgeschützten Gebäude Ferienaufenthalte für Kinder aus der Ukraine. Unmittelbar vor meinem Besuch war die letzte Gruppe zurückgereist. Es ist sehr erfreulich, dass das historische Bauwerk trotz seiner «Musealisierung» eine konkrete Funktion hat, die ganz im Sinne des Ehepaars Jäggi und auch von Hannes Meyer sein dürfte. Dessen Sohn musste 1936 in der Sowjetunion bleiben und wuchs nach der Ermordung seiner Mutter durch das Regime in staatlichen Heimen auf. 

Die ursprünglich frei stehende Anlage ist mittlerweile von vielen Einfamilienhäusern umgeben. Mich hat meine Reise in die Geschichte nachdenklich gestimmt. Da ich mit dem Velo unterwegs bin, verarbeite ich meine Eindrücke, während ich die Passwang hinauf kurble. Wenig später erreiche ich das Freidorf in Muttenz, wo Hannes Meyers wechselvolle Architektenkarriere ihren Anfang nahm. 

Der Trog neben dem Eingang des Ferienheims ist ein Identität stiftendes Element, das an die grossartigen Brunnen in der Genossenschaftssiedlung Freidorf (rechts) erinnert. (Fotos: Manuel Pestalozzi)

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