Architektur als Therapie
Susanna Koeberle
19. januari 2021
Eingriffe von Xu Tiantian im Zentrum des Dorfes Pingtian, 2015 (Foto © Ye Ke)
Die chinesische Architektin Xu Tiantian arbeitet seit mehreren Jahren an unterschiedlichen Interventionen in einer ruralen Gegend ihres Heimatlandes. Das Buch «The Songyang Story» stellt ihre Projekte in Text und Bild vor und gibt Einblick in eine weitgehend unbekannte Welt.
An der letzten Architekturbiennale von Venedig – 2018 kommt einem heute sehr weit weg vor – stand das Schlusspanel unter dem Motto «The Earth as Client». Die Biennale Kuratorinnen Shelley McNamara und Yvonne Farrell hatten für dieses Gespräch hochkarätige Vertreter*innen ihrer Gilde eingeladen, darunter Xu Tiantian (DnA_Design and Architecture), deren Arbeit auch im chinesischen Pavillon zu sehen war. Dieser war für mich eine der eindrücklicheren Präsentationen der Biennale 2018. Während man China gemeinhin mit Megacitys in Verbindung bringt, fokussierte der chinesische Beitrag auf Architekturprojekte in ländlichen Gegenden. Beim Titel «Building a Future Countryside» ist ein gewisser propagandistischer Unterton nicht zu überhören, den man allgemein vom chinesischen Narrativ (zumindest dem von offizieller Seite) kennt. Nichtsdestotrotz: Das Thema ist aktuell und wird auch hierzulande debattiert. Ohne etwas verherrlichen zu wollen, kann man bei Xu Tiantians sogenannter «Architectural Acupuncture» durchaus von einem Erfolgsmodell sprechen. Wie das funktionieren kann, zeigt nun eine Publikation bei Park Books, die auf eine Ausstellung im Aedes Forum Berlin zurückgeht: «Rural Moves – The Songyang Story» wurde zeitgleich mit der Biennale 2018 gezeigt und präsentierte die Arbeit von Xu Tiantian als bemerkenswertes Beispiel aus dem ländlichen China. Damit sollte die internationale Architekturdebatte angeregt werden.
Eine neue Tofu Manufaktur in der hügeligen Landschaft des Bezirks Songyang (Foto © Wang Ziling)
Das Buch beinhaltet eine Auswahl der wichtigsten Projekte im Bezirk Songyang, der um die 400 Dörfer umfasst. Wie Xu Tiantian in ihrer Präsentation am Biennale-Panel ausführte, sieht sie die Erde als Patienten (also nicht als client, sondern als patient). Ihre Therapie (eben die Architectural Acupuncture) agiert im Kleinen, zielt aber auf grosse Veränderungen. Und diese sind auch eingetroffen: Nicht nur nahm im Bezirk Songyang südlich von Shanghai die Bevölkerung zu, die Bauten (darunter verschiedene Fabriken, aber auch Museen und andere kulturelle Institutionen) zeitigten auch einen positiven Effekt auf die Wirtschaft, unter anderem auf die Tourismusbranche. Smog- und lärmgeplagte Städter können die Schönheit dieser Gegend neu entdecken. Ihre Besuche festigen auch das Selbstvertrauen der Landbewohner*innen: Ihre Art zu leben und zu bauen ist also doch nicht so verkehrt. Die Revitalisierung ruraler Bauweisen hat auch bezüglich der Nachhaltigkeit Vorbildcharakter. Lokale Materialien und lokales Know-how kommen zum Einsatz, was zur Folge hat, dass die Bauten einen integralen Teil der Landschaft bilden.
Die Innenräume des Teehauses in der Gegend von Damushan könnten sich ebenso in einer Stadt befinden. (Foto © Jiang Xiaodong)
Der Wandel in der Wahrnehmung alter Traditionen zeigt sich etwa im Revival der Teekultur. Während alte Anbau- und Verarbeitungsmethoden lange verpönt und deswegen selten waren, ist aktuell ein neu aufkeimendes Interesse an hochqualitativen Tees zu verzeichnen, was sich auch in den steigenden Preisen der Produkte widerspiegelt. Xu Tiantians mehrgliedriges Teehaus in der Gegend von Damushan (2015) ist der traditionellen chinesischen Teekultur gewidmet (es gibt zum Beispiel Workshops) und bietet zudem eine wunderbare Aussicht auf die Teeplantagen. Der moderne Bau erscheint als Hybrid, der sich von aussen fast mimetisch in die hügelige Landschaft fügt, während die Innenräume ebenso gut zu einem trendigen Lokal in einer Stadt gehören könnten. Die Eingriffe von DnA streben eine Interaktion zwischen ruralen und urbanen Eigenschaften an. Erst durch eine Begegnung auf Augenhöhe kann rurale Identität wieder gestärkt und damit ein Gleichgewicht hergestellt werden. Ein dringend notwendiges Unterfangen – auch auf globalem Niveau.
Workshop im Dorf Pingtian (Foto © Ye Ke)
The Songyang Story
Edited by Kristin Feireiss and Hans-Jürgen Commerell. With contributions by Eduard Kögel, Saskia Sassen, Remy Siechiping, Martino Stierli, Wang Jun and Xu Tiantian
295 x 295 Millimeter
272 Pagina's
211 Illustrations
Hardcover
ISBN 9783038601869
Park Books
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