Zuweilen fehlt etwas
Inge Beckel
19. september 2019
Gartenzimmer im Hoteltrakt der Kartause Ittingen, der anfangs der 1980er-Jahre nach den Plänen von Rudolf und Esther Guyer erbaut wurde. (Foto: Inge Beckel)
Moderne Bauten sind kubisch klar und sec. Sie sind lichtdurchflutet, ihre Fassaden aufgerissen. Oft sind sie gegossen – aus Beton, Stahl, Glas. Die Kanten sind scharf. Noch heute folgen zahlreiche Häuser diesem Paradigma.
Es sind freie Volumen im Raum, möglichst ungebunden, um mit dem sie streifenden Licht respektive den Schatten spielen zu können. Ganz so, wie es Le Corbusier in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts gefordert hatte. Doch decken sie in gewissen Punkten die Bedürfnisse der Menschen – jedenfalls vieler Menschen – nicht vollständig ab. Die Natur, und mit ihr der Mensch, funktioniert zuweilen anders. Oberflächen sind nicht glatt, sie weisen Kerben oder Falten auf. Linien sind nicht ausnahmslos orthogonal, sondern krumm oder mäandrierend, Ebenen nicht waagrecht, sondern schief. Dies wusste schon Le Corbusier. Spätestens seit dem Jahre 1929. Als vor nunmehr zwölf Jahren in Weil am Rhein eine Retrospektive über ihn gezeigt worden war, fand sich unter den Exponaten eine kleine Skizze mit einer schwungvollen Linie. Die Legende besagte, der Architekt habe während eines Flugs auf die Erde geschaut und dabei festgestellt, dass sie kaum je den Gesetzen strenger Orthogonalität folge. Vielmehr seien die Oberflächen uneben und die Linien mäandrierend. Denkt man an Le Corbusiers spätere Bauten, die nach 1945 entstanden sind – die berühmte Kapelle von Ronchamp, das Kloster La Tourette, Unités, Chandigarh –, so sind seine weissen, aufgestelzten, fragilen Bauten der Zwischenkriegszeit solchen gewichen, die roh belassener Beton bestimmt. Ihre Oberflächen weisen Spuren der Schalungen auf, sie sind gekerbt. Die Kapelle in Ronchamp steht fest im Boden verankert, die Wände sind geschwungen, die Öffnungen klein.
Menschen brauchen beides: offene lichtdurchflutete Räume als auch geschützte, zuweilen abgedunkelte. Für grosse gesellschaftliche Anlässe oder politische wie wirtschaftliche Auftritte – etwa anlässlich von Messen – braucht es grosszügige, offene Räume. Helligkeit ermöglicht den Auftretenden wie den Besucher*innen die gewünschte Sicht. Dort bewegen sich Menschen, sie begegnen sich. Sie sehen und wollen gesehen werden. Die Räume sind hell und klar, das Ambiente dynamisch. Für kleinere Zusammenkünfte oder das Alleinsein jedoch ziehen wir kleinere Räume vor. Eine Gruppe von zehn Personen etwa fühlt sich in einem grossen Raum nicht wohl. Sie zieht sich dann an eine Wand oder in eine Ecke zurück. Bin ich allein, ist mir ein Raum mit teils geschlossenen Wandanteilen angenehm: Ich fühle mich geschützt, geborgen, aufgehoben.
Zahlreiche zeitgenössische Neubauten weisen Befensterungen oder vielmehr Verglasungen auf, die vom Boden bis unter die Decke reichen; dies auch in den Wohnungen. Wohnungen aber sind unser Zuhause, sie sind privat. Von Zeit zu Zeit feiern wir dort Feste, Geburtstage oder Neujahr, doch meist sind wir einfach dort, alleine oder zusammen mit dem Partner, der Familie, in der Wohngemeinschaft. Wir kochen, essen, reden, lesen, schlafen. Wir erholen uns. Wir haben keinen Auftritt – und wir wollen ihn dort auch nicht. Wir sehnen uns nach Ruhe. Wir ziehen uns zurück.
Neben der offenen Sicht auf Nachbarn und (Stadt-)Landschaft brauchen unsere Wohnungen geschlossene und geschützte Bereiche und Ecken. Sie brauchen Mauern. Wo sonst stellen wir unsere Büchergestelle auf? Schliesslich findet sich nicht alles im digitalen Netz. Zuweilen wollen einige von uns auch gerne etwas Handfestes greifen, mit den Fingern beispielsweise über einen Leineneinband streifen. Und wo hängen wir in einer rundum verglasten Wohnung die Bilder auf? Handle es sich um «hohe» Kunst oder die Zeichnung einer künstlerisch begabten Ahnin. Dass einem die Panoramen, die wir durch die grossflächigen Öffnungen unserer modernen Wohnungen sehen, ab und zu auf die Nerven gehen können, stellte Mitte des vorigen Jahrhunderts beispielsweise der Architekt Theo Schmid fest. Er schrieb in einem Artikel 1947 in der seinerzeit jungen Zeitschrift Bauen+Wohnen – vor der Fusion mit Werk – folgendes Zitat, das hier ausnahmsweise in einem längeren Wortlaut wiedergegeben sei, denn es spricht die dahinter stehende Problematik in direkten und klaren Worten an.
«Diese lichten Räume in Verbindung mit der blühenden Vegetation ihrer Umgebung sind uns zu einer Selbstverständlichkeit und absoluten Lebensnotwendigkeit geworden. Wir dürfen dabei aber nicht stehen bleiben. Die machtvolle Extraversion muss im Wohnungsbau wieder gezähmt und in die richtig bemessene Schranke verwiesen werden. Begreiflicherweise äusserten sich die lang unterdrückten, neu gestaltenden Kräfte ihrem revolutionären Wesen nach anfänglich extrem. Nur wenige ihrer eigentlichen Urheber und Verteidiger vermochten schon von Anfang an Mass zu halten. Mehrheitlich ging es aber um das Einreissen der Mauern bis zur vollständigen Auflösung des Raumes. Eitle Extremisten propagierten das Haus als Abstraktion schlechthin. Wer die Möglichkeit hat, ein nach aussen vollständig umgestülptes Haus zu bewohnen, kann die Folgen solcher Einseitigkeit und Übertreibungen am eigenen Leibe leicht erfahren. Dann wird man gewahr, dass einem das ewige Zwiegespräch mit der Aussenwelt, einem immer gleichbleibenden splendiden und anspruchsvollen Alpen- und Seepanorama in gewissen Wetterlagen und Seelenstimmungen geradezu furchtbar auf die Nerven geben kann.»
Schmid hatte natürlich recht. Das Aufreissen der Wände war seinerzeit ein Fortschritt. Sowohl in technischer und statischer Hinsicht war das Überspannen grosser Öffnungen eine Errungenschaft als auch in medizinisch-sozialer. Denn Häuser und mit ihnen die Wohnungen waren um 1900 oft dunkel, stickig, feucht und damit schlicht ungesund.
Heute jedoch müssen wir feststellen, dass das Pendel, nachdem es in Richtung des Öffnens, Aufreissens und Aufhellens von Bauten ausschlug, wieder verstärkt auf die andere Seite gelenkt werden muss. Charles Dickens hatte in den 1830er-Jahren den gesellschaftskritischen Roman «Oliver Twist» verfasst. Darin beschrieb er die unhaltbaren baulichen Zustände der Urbanisierung Englands im Umfeld damals schnell fortschreitender Industrialisierung. Es war wichtig, dass die Fensteröffnungen grösser wurden. Es ist wichtig, dass Wohnungen von Tageslicht durchflutet werden.
Es ist jedoch gleichzeitig wichtig, dass wir uns zurückziehen können. So ist die jüngste Ausgabe der Zeitschrift archithese mit «Rückzug» betitelt. Gerade vor dem Hintergrund der heute ebenso geforderten wie notwendigen Verdichtung unserer Siedlungslandschaft braucht es Orte des Rückzugs; Orte des «Zu-sich-Kommens», des Nachdenkens, der Erholung, des Regenerierens; Orte der Stille; Orte mit geringer «Bewegungsdichte»; Orte, wo augenscheinlich nichts läuft, an denen man eigene Gedanken und Bilder entwickeln kann. Hierfür bedarf es – baulich-architektonisch gesprochen – geschlossener Flächen. Wänden, die weder Blicke noch Licht durchlassen. Aus Sicht des frühen 21. Jahrhunderts braucht es eine Reduktion der transparenten und transluzenten Flächen zugunsten geschlossener, muraler Wände. Wir benötigen Wände, die wir greifen können – etwa die kleinen Kerben in den Backsteinen oder gar die textile Faserung einer Stramin-Wandtapete.
«Heilsame Architektur» heisst ein kürzlich beim Verlag transcript erschienenes Buch. Katharina Brichetti und Franz Mechsner begeben sich darin auf die Suche nach Gründen und Kriterien, warum wir uns in gewissen Räumen wohl und in anderen unwohl fühlen. So kann man schliessen, dass es vor rund 100 Jahren – zur Zeit von Schwindsucht oder Tuberkulose – ums physische Gesunden ging. In Zeiten von Stress und Burnout nunmehr aber muss es um psychische Gesundung oder Erhaltung von Gesundheit gehen. Und dafür braucht es teils geschlossene Räume, die uns schützen und geborgen fühlen lassen.