Randgebiete neu denken

Susanna Koeberle
23. februari 2017
Im Kulturzentrum la Tuor in Samedan ist bis am 2. April 2017 die Ausstellung «PostAlpin-Design & Innovation in Bergebieten» zu sehen. Der in Samedan ansässige Schreiner Ramon Zangger, dessen Wirken dieser Teil der Ausstellung zeigt, ist auch Mitinitiator des Kulturzentrums. Bilder: FHNW

Wir leben in einer Zeit der Umbrüche. Auch wenn sich dieser Wandel schwer an einem bestimmten Zeitpunkt festmachen lässt, können Veränderungen häufig territorial lokalisiert werden. Über das weltweite Wachstum der Städte etwa und die damit verbundenen Probleme wird heute viel geredet und debattiert. Doch periphere Gebiete spüren diese Entwicklungen ebenso. So zum Beispiel der alpine Raum: Auch dieser ist seit geraumer Zeit von einem markanten Strukturwandel betroffen. So sehen vor allem jüngere Generationen häufig keine Zukunft in den von Landwirtschaft und Handwerk geprägten Regionen und ziehen deshalb in die urbanen Ballungszentren, die für Wachstum und Forschritt stehen. Die Folge dieser Abwanderung sind halbleere Dörfer, in denen das gesellschaftliche und ökonomische Leben zusehends zum Erliegen kommt. Sogar touristische Destinationen haben es heute schwer. Diese Krisenstimmung ist allgegenwärtig.

Umgekehrt ist die Faszination der Städter für die Berge ungebrochen, da ändert auch die Krise nichts daran. Die einzigartige Landschaft sowie eine eigenständige handwerkliche Tradition stehen für eine starke Identität. Könnte dieses kulturelle Erbe nicht ein fruchtbarer Boden für Neues sein? Bestünde darin nicht gerade Potential für neue Lebensformen? Was für Möglichkeiten ergeben sich aus dieser Situation? Was sind die Stärken von Randregionen und wie werden diese genutzt?

Ein Projekt der FHNW
Solchen Fragen geht das Institut für integrative Gestaltung der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel (FHNW) in seinem vor drei Jahren initiierten Projekt «PostAlpin» nach. Die Disziplin Design wird dabei in einem breiteren Kontext verstanden. Design bedeutet demnach nicht nur das Entwerfen von formschönen (und oft überflüssigen) Produkten, sondern hat genauso viel mit dem Gestalten von Situationen zu tun. «PostAlpin» möchte aufzeigen, wie unterschiedliche Akteure in den Bergregionen durch das Erzeugen von qualitativ hochstehenden lokalen Produkten und Dienstleistungen neue Wertschöpfungen kreieren. Und damit nicht nur Arbeitsplätze schaffen, sondern auch dazu beitragen können, den Alpenraum als Lebensraum und die alpine Kultur neu zu lesen.
 
Das Forschungsprojekt (total wurden vierzig Beispiele zusammengetragen) wird zurzeit in der Ausstellung «PostAlpin - Design & Innovation in Berggebieten» der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Im Kulturzentrum La Tuor in Samedan  werden sechs Betriebe vorgestellt, welche beispielhaft für einen kreativen Umgang mit regionalen Traditionen und Materialien und einem daraus erwachsenen Know-how stehen. Von Mai bis Oktober sollen dann in einem zweiten Teil der Ausstellung weitere Betriebe präsentiert werden.

Auch bei Molino Scartazzini geben grossformatige Videoinstallationen Einblick in die Arbeit von Menschen und vermitteln ein Gefühl für den Ort. Daneben sind die fertigen Produkte zu sehen.

Produkte und Filme
Wie können so komplexe Sachverhalte anschaulich dargestellt werden? Die Kuratoren der Ausstellung, Ralf Michel und Roland Eberle, haben sich dazu einiges überlegt. Die besonderen räumlichen Proportionen des Ausstellungsortes erfordern viel Geschick. Der schmale historische Turm wurde vor einigen Jahren von Mierta & Kurt Lazzarini Architekten zu einem Kulturzentrum umgebaut und beherbergt seither Ausstellungen in den Bereichen Architektur, Design und Handwerk. Dass man sich bei dieser Ausstellung auf wenige Beispiele beschränkt, ist eine weise Entscheidung. Dadurch steht für die Ausstellungsszenographie (Heinz Wagner und Valerie Notter de Rabanal), genügend Raum zur Verfügung.

Eine zentrale Rolle nimmt dabei das Medium Film ein. In Zusammenarbeit mit der Filmhochschule Offenburg entstanden aufwendige filmische Porträts der einzelnen Betriebe. Auf drei grossformatigen Leinwänden erhalten die Besucher jeweils Einblick in den Ort, die Menschen, ihre Arbeitsweise und in die Herstellung der Produkte. Das gleichzeitige Abspielen der kurzen Filme schafft eine Mehrschichtigkeit, die ohne Bergkitsch-Effekt auskommt. Wie solche Klischees bedient werden, kennt man ja aus der Werbung.

Zu den Filmen gesellen sich die einzelnen fertigen Produkte, teilweise auch Vorstufen dazu; kurze Texte geben zwar Basisinformationen, Filme und Produkte sollen aber für sich sprechen. Durch diese differenzierte und zugleich einfache Art der Präsentation entstehen anschauliche und authentisch wirkende Geschichten, die eingleisige Zuweisungen gar nicht erst aufkommen lassen. Dass nämlich etwas in den Bergen hergestellt wird, ist nicht gleichzusetzen mit rückwärtsgewandter Handwerksromantik, das versteht man schnell. Im Gegenteil  - gerade durch die Kombination mit zeitgemässen Technologien entsteht Neues und Überraschendes. Das ist das, was man mit dem etwas abgedroschenen Wort Innovation bezeichnet. Hier hat es aber durchaus seine Berechtigung.

Bei Kessler Snowboard baut jeder Mitarbeiter ein Brett vom Anfang bis zum Finishing.

Der erkennbare Mehrwert
Wie diese alpine Kombination von Tradition und Neuem funktionieren kann, sieht man etwa bei der Snowboard- und Ski-Manufaktur Kessler aus Braunwald. Moderne CNC-Technologie wird hier durch Handwerk ergänzt - mit Erfolg. Profis heimsen auf diesen Brettern regelmässig Medaillen ein. Auch zai aus Disentis hat neue Fertigungsmethoden entwickelt: Man verwendet dort für die Skis ungewöhnliche Materialien, lokalen Stein zum Beispiel. Dadurch entstehen nicht nur hochwertige und (vor allem!) auch langlebige Produkte, sondern auch Identifikationsbilder.

Das Generieren von Mehrwert funktioniert nicht nur auf einer materiellen Ebene, sondern ebenso auf einer emotionalen. Weitere der in der aktuellen Schau vorgeführten Studienobjekte sind das Hotel Piz Linard in Lavin, die Möbelwerkstatt Zangger, der Schuhhersteller Kandahar sowie der Mühlenbetrieb  „Molino Scartazzini“.
Die Familie Scartazzini mahlt im Bergell schon seit 300 Jahren Getreide und Kastanien zu Mehl, während das Hotel Piz Linard erst vor einigen Jahren von einem Städter übernommen wurde, den es in die Berge zog.

Die Motive, solche Projekte ins Leben zu rufen oder Bestehendes zu neuem Leben zu erwecken, könnten unterschiedlicher nicht sein. Dennoch gibt es nebst dem Bergbezug auch Gemeinsamkeiten. Das so gefertigte Endprodukt stellt gegenüber der heute verbreiteten Massenware einen Gegenentwurf dar. Man kann dem entgegenhalten, dass es sich dabei um Luxusprodukte handle, um einen temporären Trend, der das Lokale und handwerklich Gefertigte überbewerte und schliesslich doch nichts am Verhalten der Leute ändere. Die Ausstellung hat diesbezüglich aber keine übertriebenen Ambitionen, sie möchte einfach «Mut machen» und Alternativen aufzeigen. Dass eine umgekehrte Bewegung aus den Städten  in die peripheren Gebiete dadurch Aufschwung erhalten könnte, wäre ja halb so schlimm. Und durchaus nachzuvollziehen.

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