Ein Augenschein in Dübendorf
Manuel Pestalozzi
20. oktober 2016
Keine Skyline ohne grüne Rahmung und ohne Restglatttal. Blick vom Frickenbuck an Dübendorfs Ostrand, Sommer 2016. Bild: Manuel Pestalozzi
Erkennen wir den diskreten Charme der Agglomeration? Gerade in unserer Zeit grosser Transformationen ist es angezeigt, nach ihm zu suchen. Zum Beispiel im mittleren Glatttal, nördlich von Zürich.
Wenn in der Fachwelt von der «Agglomeration» gesprochen wird, ist häufig ein kaum definiertes Irgendwo gemeint. Das Bild eines terrain vague taucht auf, der Anthropologe Marc Augé nennt es non-lieu, sinnlos verschandelt von meist geldgierigen, herzlosen Gesellen, auf die ordnende Hand von städtebaulichen Fachleuten wartend. In der Schweiz muss man aber von politisch autonomen Gemeinden sprechen, die eigenständig entscheiden und eine eigene Mentalität haben. Die Zustände lassen sich herleiten.
So ist zum Beispiel Dübendorf weder gesichts- noch geschichtslos. Es gibt so etwas wie eine städtebauliche Kontinuität, auch wenn Städtebau eine Disziplin ist, die zu Dübendorf einfach nicht richtig passen will. Jedenfalls existiert eine Innensicht zu dieser offiziell Stadt genannten Entität mit über 26'000 Einwohnerinnen und Einwohnern, Tendenz zunehmend. Diese Innensicht prägt das Erscheinungsbild und Transformationen mit. ETH-Professor Kees Christiaanse würde wohl von einer urbanisierten Landschaft sprechen. Es sind allerdings keine ungebändigten Naturkräfte, die im Glatttal wüten, hinter allem steckt menschlicher Wille, der freiheitlich-demokratischen Regeln folgt und einen direkten Bezug zu dieser Landschaft hat.
Geringe Dichte in zentraler Lage: Einmündung der Unteren Zelglistrasse in die Wilstrasse, historische Verbindung von zwei Ortsteilen. Im Hintergrund der Turm der katholischen Kirche Maria Frieden von Ferdinand Pfammatter und Walter Rieger aus den frühen 1950er-Jahren. Bild: Manuel Pestalozzi
Versuch einer Herleitung
Dübendorf ist eine Gemeinde, deren Gebiet an jenes von Gross-Zürich grenzt, namentlich an die eingemeindeten Stadtquartiere Schwamendingen und Fluntern. Im Gegensatz zu den stets inhärenten «Bandstädten» entlang der Zürichseeufer oder der Limmat, liegt sie etwas im Windschatten der dominierenden Metropole; der bewaldete Hügelzug des Zürich- und des Adlisbergs ist eine bis heute wirksame Trennung; der Weg nach Dübendorf führt seit je «obendurch», via Zoo und Dübendorfs Aussenwacht Gockhausen, oder «untendurch», über den Milchbuck und durch Schwamendingen. Die räumliche Trennung wird mittlerweile durch den Zürichbergtunnel der S-Bahn zwar relativiert, ist aber für das Ortsverständnis nach wie vor relevant.
Ein wirkliches Zentrum hatte Dübendorf nie. Das Siedlungsgebiet erstreckte sich entlang verschiedener Wege und Strassen auf der linken Seite des tückischen, erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts befriedeten Flüsschens Glatt. Es gliederte sich in drei Teile: Oberdorf, Unterdorf und das Wil. Ober- und Unterdorf wurden zur Glatt hin durch je eine Mühle und eine Brücke abgeschlossen. Im frühen 19. Jahrhundert zog die Regierung eine Kantonsstrasse von Zürich «untendurch» ins Zürcher Oberland, quer durch Dübendorfs locker bebautes Siedlungsgebiet. Einige Jahrzehnte später entstand die Eisenbahnlinie mit den selben Zieldestinationen wie die Strasse. Dübendorfs Bahnhof kam auf einer sanften Anhöhe zu liegen, auf der rechten, noch unbesiedelten Seite der Glatt. Die Bahnhofstrasse führte zur Glattbrücke hinab und überquerte als Strasse vom Oberdorf ins Wil die Kantonsstrasse. Die Kreuzung im Zusammenhang mit diesen übergeordneten Verkehrswegen hat sich zum offiziellen Zentrum der Gemeinde entwickelt. An ihr steht das Stadthaus.
Unterdorf und Oberdorf bei den Glattmühlen bildeten mit dem weiter südlich liegenden Wil eine Gemeinde. Die Kantonsstrasse durchquert das Siedlungsgebiet, die Bahnlinie tangiert es noch nicht. Siegfriedkarten aus den Jahren 1896 und 1900. Bild: map.geo.admin.ch
Im Gegensatz zu anderen Agglomerationsgemeinden Zürichs, wie Wallisellen oder Schlieren, entwickelte sich in Dübendorf keine namhafte Industrie, lange blieb es bei einigen Anlagen an der Glatt am nordwestlichen Ende des Unterdorfs. Es gab keinen Anlass, Industriegleise zu verlegen. In einer ähnlichen Situation befand sich eine andere Gemeinde weiter nördlich von Zürich. Die Rede ist von Regensdorf, das sich um die letzte Jahrhundertwende gemeinsam mit Dübendorf als Standort der kantonalen Strafanstalt bewarb und schliesslich den Zuschlag erhielt.
Somit zeigt die Gemeinde bei der Siedlungsentwicklung zwar nie eine grosse Initiative, sie war sich aber ihrer Attraktivität als stadtnaher Standort stets bewusst: Man brauchte nur zu warten, bis es in Zürich zu eng wurde und man sich dort entschloss, Nutzungen – zum Beispiel das Gefängnis – auszulagern. So wartete man, bis das grosse Ried nördlich des Bahnhofs für die Luftfahrt entdeckt und durch Meliorationen funktionsfähig gemacht wurde. Man wartete, bis der Bund die Konkursmasse des wagemutigen, privat finanzierten Projekts 1914 übernahm und für seine junge Flugwaffe aufrüstete. Dübendorf erhielt eine Garnison, einen Militär- und bis in die 1940er-Jahre Zürichs Zivilflughafen. Die örtlichen Bauunternehmer freuten sich, da sie Raum für den Betrieb und für die Behausung des Personals schaffen konnten. Das Siedlungsgebiet dehnte sich über die Glatt und die Bahnlinie hinweg nach Norden aus.
Blick entlang der Achse der alten Kantonsstrasse nach Nordosten, in Richtung Zentrum. Die Durchfahrt ist nicht mehr erwünscht, der Strassenraum soll einen innerörtlichen Charakter erhalten. Bild: Manuel Pestalozzi
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die passive, abwartende und duldsame Haltung fort. Das Wachstum folgte auf den Fuss: Am Westrand des Gemeindegebiets, nahe beim neu errichteten Züricher Wohnquartier Schwamendingen, liessen sich zögerlich «ausgelagerte» mittelgrosse Industrie- und Gewerbebetreibe nieder. Mit der campusartigen Anlage der Eidgenössischen Materialprüfungsanstalt (Empa) markierte der Bund unweit des Flugplatzes zusätzliche Präsenz. Am Ostrand tauchten Gruppen von Einfamilienhäusern auf, hinzu kam entlang der Kantonsstrasse nochmals etwas Industrie. Dazwischen wurden Flächen weiterhin landwirtschaftlich genutzt. Da und dort entstanden Wohnüberbauungen unterschiedlicher Grösse. Nichts nund niemand nahm eine dominierende Stellung ein. In der Gemeinde konnte man den Stossseufzer der Erleichterung hören: wenigstens keine Göhnersiedlung!
Über Monotonie kann man sich im Innern Dübendorfs kaum beklagen. Es herrscht ein Nebeneinander von Vorstadtvillen, Familiengärten, Wohnblöcken, Handwerksbetrieben, Sportanlagen, Pferdegehegen, Ladenlokalen, Werkstätten und einigen verstreuten Überbleibseln des einstigen Bauerndorfs. Besonders schön ist das an vielen Punkten nicht, oft fehlt ein erkennbarer Zusammenhang zwischen den einzelnen Elementen, welche das Patchwork von Dübendorf ausmachen. Der gemeinsame Nenner im willkürlichen Mix der Stile und baulichen Grössenordnungen sind neben dem zumeist informellen Grün die Strassen. Ihr Verlauf orientiert sich zu einem wesentlichen Teil an alten Feldwegen und der hergebrachten Parzellenstruktur.
Dübendorfer Heimatsymbol: Die weisse Tasse und die Neonschrift des Tearooms Plaza begrüssen seit den 1960er-Jahren den aus Richtung Zürich herannahenden Verkehr auf der alten Kantonsstrasse. Bild: Manuel Pestalozzi
Urdemokratisch
Die Gemeinde unternahm einige Versuche, eine städtebauliche Ordnung zu schaffen und Schwerpunkte zu setzen. In den 1960er-Jahren gab es Planungsstudien, welche die Bahnhofstrasse urbanistisch aufwerten wollten. Als Vorbild diente die Fussgängerzone des Lijnban-Viertels in Rotterdam. Das war eine Nummer zu gross für Dübendorf. Auch das Stadthausprojekt von Ernst Gisel bei der erwähnten zentralen Strassenkreuzung war wohl überdimensioniert; es fand 1984 keine Gnade beim Stimmvolk. In den 1990er-Jahren wurde am selben Standort ein bescheidenerer Sitz für die Behörden und das Stadtparlament realisiert.
Die Ereignisse zeigen, dass es einen unterschwelligen lokalen Konsens zu geben scheint, was Grösse und Dichte anbetrifft – er lautet: nicht zu gross. Und: Wer in Dübendorf baut, will freistehend bauen, diese Meinung war durchs ganze 20. Jahrhundert weit verbreitet. Das Resultat ist eine oft wohl ziemlich chaotisch wirkende Gleichmässigkeit ohne Akzente und ohne wirkliche Hierarchie. Hand aufs Herz: So muss das Bauen in einer von anhaltendem Wohlstand geprägten freiheitlichen Demokratie fast zwangsweise ausschauen. Es ist ein anti-utopisches Ortsbild: Man werkelt vor sich hin, bedarfsgerecht, nach eigenem Geschmack und nach der Grösse der Brieftasche – wie es gesetzlich erlaubt ist.
Überbauung Zwicky-Süd bei der Mündung des Chriesbach in die Glatt, Blick vom Uferweg. Die Flusslandschaft ist ein Kapital. Bild: Manuel Pestalozzi
Neue Randlagen
Dübendorf erlebt aktuell wie die gesamte Agglomeration von Zürich einen Bauboom. Betroffen sind allerdings weniger die Zentrumsbereiche, wo eine zögerliche, massstabsgerechte Verdichtung im Gange ist, sondern der Westrand. Die Lücke zum Gebiet der Stadt Zürich wird endgültig geschlossen. Im kantonalen Richtplan als Zentrumsgebiet eingetragen, soll dort eine hohe Dichte inklusive Hochhäuser entstehen. Dübendorf lässt es wiederum relativ passiv aber mit Wohlwollen geschehen.
Resultiert daraus ein neuer Siedlungsschwerpunkt auf dem Gemeindegebiet? Welche Folgen haben die signifikanten Eingriffe für die Mentalität von Dübendorf? Die Gemeinde beschäftigt zwar Verantwortliche für die Stadtplanung, es wird aber keine klare Zielvorstellung von der städtebaulichen Zukunft der Gemeinde vermittelt. In einer neueren Präsentation stellt die Gemeinde ihren Westrand als «Stadt mit hoher Dichte» dem restlichen Siedlungsgebiet als «Gartenstadt» gegenüber. Beim Areal Zwicky Süd, Teil eines Gesamtareals, das sich in die Nachbargemeinde Wallisellen erstreckt, konstatiert sie den «Willen zu städtischer Entwicklung aller Partner (Kanton, Gemeinden, Privat)». Beim Gebiet Hochbord, östlich der S-Bahnlinie und der Station Stettbach an der Grenze zu Zürich, erkennt sie «bisher kein Wille & kein Bedarf zu städtischer Entwicklung (Situation akzeptiert)». Offenbar besteht ein Konsens, dass man mit der abwartenden Haltung bisher gut gefahren ist. Abwarten scheint nach wie vor als der beste Ratgeber zu gelten.