Das Wunder von Winterthur

Manuel Pestalozzi
23. juni 2016
Vielleicht nicht ganz der «Ponte dei Sospiri», aber ebenfalls mit grosser atmosphärischer Wirkung: Passerelle zwischen dem Superblock und der historischen Bauzeile entlang der Zürcherstrasse. Bild: Manuel Pestalozzi

Winterthur hatte es in letzter Zeit nicht leicht: eine leere Stadtkasse, mutmassliche Islamisten in der Steigmühle – und der elende Biorender. Da ist der Erfolg des Sulzerareals wahrlich Balsam für die geplagte Seele. Gerne liess man deshalb am Innovations-Apéro des Technopark Winterthur die bisherige Geschichte des erstaunlichen Wandels Revue passieren. Am 7. Juni 2016 versammelte sich dort ein gut gelauntes Publikum im Konferenzsaal um genau dies zu tun. Dass der Technopark mitten im Sulzerareal liegt, sei der Vollständigkeit halber noch erwähnt.
 
Der anreisende Journalist erinnerte sich ans erste Semester seines Architekturstudiums im Winter 1992. Damals legte er genau denselben Weg zurück, um in der Cityhalle am Gleisfeld die Entwürfe zu begutachten, die ein städtebaulicher Wettbewerb produziert hatte. Riesig war das Planungsgebiet, grösser als Winterthurs Altstadt, düster wirkten in der kalten Jahreszeit die kompakten gelben Klinkermassen auf dem Fabrikgelände, die teilweise noch mit spitzen Holzpalisaden umgeben waren. Staunend studierte er die Megastrukturen von Theo Hotz, das komplett neue Quartier von Richard Rogers und natürlich den erfrischend unkonventionellen Entwurf von Jean Nouvel und Emmanuel Cattani, der zum Sieger gekürt wurde.

Vom Stadtzentrum führt nach der Bahnunterführung eine Rampe ins Areal. Sie ist Teil des Projektes «Gleisquerung», welches die Gebiete beidseits der Bahnlinie besser verbinden soll. Bild: Manuel Pestalozzi

In den vergangenen 25 Jahren hat sich das Sulzerareal in ein «urbanes Biotop mit Industriecharme» verwandelt, wie sich Michael Künzle, der amtierende Stadtpräsident Winterthurs, am Innovations-Apéro ausdrückte. Man begann früh: Das Schicksal von Zürich-Nord, Zürich-West oder der Vorgängerin der Sihlcity lag noch im dichten Nebel, als man in der zweitgrössten Stadt des Kantons die ersten Weichen stellte. Das Stimmvolk Berns beschloss 1986 die Umwandlung der Schokoladefabrik Tobler in einen Universitätscampus, beim Warteck-Areal in Basel startete man 1989 die postindustrielle Planung. Man befand sich unter den Industriebrachen-Pionieren, doch die Grösse und das städtebauliche Gewicht des Planungsgebietes übertraf alles in der Schweiz bisher bekannte.
 
Der Industriekonzern Sulzer beschäftigte bis zu 8'000 Arbeiterinnen und Arbeiter. Sein Entscheid, das zentral gelegene Gebiet nicht weiter industriell zu nutzen, war für die Stadt vorerst ein grosser Schock. Doch das Unternehmen bestand ja fort, und es fühlte sich nach wie vor Winterthur verpflichtet. Nicht nur bemühte es sich nachhaltig, den Wandlungsprozess auf einen für alle Beteiligten erträglichen gemeinsamen Nenner zu bringen, es hatte das Glück, dabei durch einen Mann vertreten zu sein, der diesen Prozess für Sulzer als Leiter Arealentwicklung von 1991 bis 2010 begleitete. Architekt Walter Muhmenthaler brauchte dem Publikum des Innovations-Apéros nicht vorgestellt zu werden; er ist stadtbekannt und nicht nur Zeuge des erfolgreichen Wandels sondern als Vertreter des aktuellen Areal-«Fertigentwicklers» Implenia auch so etwas wie sein Bürge. Solche Garanten für den Erfolg lassen sich nicht einfach kopieren.

Die Dichte war schon lange da. Das Sulzerareal zwischen dem Gleisfeld und der Hauptstrasse nach Zürich im Jahr 1916. Bild: Zeitung Tag des Denkmals 2004

Zeitgeist und Entwicklungsschritte
Walter Muhmenthaler erinnerte daran, dass das Sulzerareal 1987 komplett überbaut war, eine kleine Stadt mit eigener Infrastruktur wie etwa einer autonomen Gasversorgung. Sulzer brauchte es nicht mehr, Financiers wie Tito Tettamanti oder Werner K. Rey streckten ihre Fühler aus. Es herrschte der Büroboom. Doch Sulzer erkannte, dass ein politischer Prozess unabdingbar war und entschied: Das machen wir selbst. Das Ziel bestand darin, das Areal zu entwickeln und anschliessend zu verkaufen. Man veröffentlichte 1989 die Gesamtplanungsstudie «Winti Nova», welche von einer völligen Neubebauung ausging und für Aufruhr sorgte. Es folgte die «Werkstatt 90 – Stadtentwicklung Winterthur» und anschliessend der erwähnte Planungswettbewerb mit dem siegreichen Projekt «Megalou» von Nouvel und Cattani.
 
«Megalou» entsprach dem explizit geäusserten Wunsch nach einer «Verdichtung nach innen» und nach der «Entwicklung hervorragender architektonischer und städtebaulicher Lösungen für gute Arbeitsplatzqualität und optimale Wohnqualität bei hoher Dichte und Wirtschaftlichkeit». Das Projekt öffnete das Areal zur Zürcherstrasse, respektierte aber gleichzeitig den Baubestand, der das Areal nach wie vor prägen sollte. 1998 erlangte Baubewilligung Rechtskraft. 2001 verfiel sie. «Wir fanden keine Investoren», kommentierte Walter Mumenthaler trocken das Ende des gemeinhin als zu teuer erachteten Stararchitekten-Projekts.

Superblock statt «Megalou». Der 2014 fertiggestellte Bürokomplex von Adolf Krischanitz (Bildmitte) erinnert vage an das Projekt von Nouvel und Cattani. Er beherbergt Büros, unter anderem Winterthurs Stadtverwaltung. Bild: Stadt Winterthur

Zauberwort «Providurium»
Parallel zu diesen Entwicklungsaktivitäten stellte Sulzer Teile des Areals für Zwischennutzungen zur Verfügung. Das bekannteste Beispiel ist die Halle 180. Diese wurde 1991 für einen Festanlass zur 700 Jahre-Feier der Eidgenossenschaft genutzt. Anschliessend baute man die Architekturfakultät der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften) in sie hinein. Alle zogen am selben Strick, um ein unkonventionelles Projekt zu realisieren: die kantonale Verwaltung, die Behörden der Stadt Winterthur, sogar die Vertreter der Bau- und Feuerpolizei. Vitudurum hiess das römische Kastell auf Winterthurs Boden, «Providurium» hiess das Zauberwort für den graduellen Fortschritt der Arealentwicklung. Die Architekturfakultät in der Halle 180 ist nun 25 Jahre alt. «Hoffentlich hält sie noch lange», wünscht sich Walter Muhmenthaler.
 
Auch andere Teile des Areals sind weitgehend in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten geblieben. Ein innovativer Baujurist der Stadt entwickelte für Zwischennutzungen spezielle Bauordnungen. Deshalb gibt es im Bereich Werk 1 seit zwei Jahrzehnten florierende Betriebe, im Block 37 konnte eine Trendsporthalle eingerichtet werden. Und die Halle 53 ist das «groovigste Parkhaus der Welt», in dem man auch Afro-Pfingsten veranstalten kann. Vor dieser Halle erstreckt sich der Katharina Sulzer-Platz, eine breite, minimalistisch gestaltete Freifläche mit monumentaler Wirkung, welche den etwas rauen Zustand des Ganzen zelebriert und gerade durch ihre Unfertigkeit an Charakterstärke gewinnt. 2003 wurde ein Denkmalschutz-Vertrag abgeschlossen, welcher vor allem die typischen Klinkerfassaden und Teile des industriellen Erbes schützt.

Der Katharine Sulzer-Platz mit der Wohnüberbauung Kranbahn, links, und der Stadthalle 53, rechts, dem «groovigsten Parkhaus der Welt». Foto: Manuel Pestalozzi

Die letzten Schritte
Gemäss Stadtpräsident Künzle werden dereinst mehr als 10'000 Menschen im Sulzerareal wohnen, arbeiten, studieren und die Freizeit verbringen. Gemäss Walter Muhmenthaler wird die Ausnützungsziffer von einst weniger als 1,0 auf über 2,0 steigen. Heute sind die Stadtverwaltung und bedeutende Teile der der ZHAW hier untergebracht. Zahlreiche Bauherrschaften konnten Projekte verwirklichen, ohne dass das Gesamtbild dadurch beeinträchtigt worden wäre. Ein Wegnetz bietet abwechslungsreiche Raumsequenzen quer durchs Areal – es macht Freude, hier spazieren zu gehen.
 
Als letzter Schritt wird nun von Implenia das Gelände Werk 1 am südwestlichen Ende des Areals neu überbaut. Es soll neben Wohn-, Arbeits- und Freizeitnutzungen auch Bildungsstandort werden und möchte sich durch seinen hohen Anspruch an Nachhaltigkeit, preisgünstigen Wohnraum, grosszügige Freiräume sowie den Erhalt historisch wertvoller Bauten auszeichnen. Die Entwicklung des Areals schreitet planmässig voran: Eben wurde das Siegerprojekt aus einem Wettbewerb für das Baufeld 3 mit rund 270 Wohnungen und Stadthäusern bekanntgegeben. Es stammt von der Arbeitsgemeinschaft Baumberger & Stegmeier Architekten und Kilga Popp Architekten.
 

Einer der letzten Schritte: Neubebauung des Werk 1 mit Stadthäusern nach einem siegreichen Wettbewerbsprojekt der Arbeitsgemeinschaft Baumberger & Stegmeier Architekten und Kilga Popp Architekten. Bild: Architekten

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