Erklären, vermitteln, verkaufen

Elias Baumgarten
19. juni 2020
Illustration: World-Architects.com

Elias Baumgarten: Wir möchten den Austausch zwischen Architekt*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz fördern. Deswegen laden wir zu lockeren Debatten via Skype ein. 
Ihr seid mit euren Büros raumstation, Marazzi Reinhardt und Hein architekten in und um München, in Zürichs Agglomeration und in Vorarlberg aktiv, also in Räumen, die derzeit ein kraftvolles Wachstum erleben. Architektonisch gehen damit viele Herausforderungen einher, es stellen sich viele unterschiedliche, bisweilen gegensätzliche Anforderungen an eure Projekte: Es soll verdichtet werden und das baukulturelle Erbe erhalten bleiben, eure Gestaltungen müssen nachhaltig sein und sollen ökonomische Interessen wahren. Wie, wollen wir wissen, lassen sich in diesem Umfeld gute Gestaltungen umsetzen?

Sergio Marazzi: Aktuell bringt die Klimadebatte, die nun endlich auch in der Architektur Fahrt aufnimmt, eine neue Dynamik und wirft auch bei Umbauprojekten spannende Fragen auf. Der Denkmalschutz hat eine zusätzliche Dimension erhalten, welche nicht immer mit den Schutzzielen vereinbar ist. Wir müssen unbedingt nachhaltiger und umweltfreundlicher bauen, zugleich aber wollen wir unser baukulturelles Erbe bewahren. Als Gesellschaft müssen wir uns daher dringend einigen, wann und wo welche Prioritäten gesetzt werden sollen.

Matthias Hein: Vor allem müssen wir diskutieren, was Nachhaltigkeit genau bedeutet. Über Dämmstärken und Energieeinsparungen zu sprechen ist schön und gut, das alleine wird uns aber noch nicht ans Ziel bringen. Ich fand interessant, was Lilitt Bollinger, Stefan Marte und Max Otto Zitzelsberger im Interview mit dir gesagt haben, Elias: Wir müssen die in der Bauwirtschaft verbreitete Wegwerfmentalität ablegen. Wir sollten Gebäude erhalten und anpassen. Falls wir doch neu bauen, sollten die Objekte auf lange Lebenszyklen ausgelegt sein und nicht nach relativ kurzer Zeit als Sondermüll enden. Und wir sollten auf regionale Wertschöpfung und kurze Wege setzen.

Walter Waldrauch: Die bauphysikalischen Vorgaben sind gerade bei Umbauten manchmal problematisch. Wenn man sich beispielsweise hinsichtlich der Dämmung des Daches eines historischen Hauses wieder um Zentimeter Materialstärke streitet, fragt man sich schon, wie sinnvoll all die Vorschriften und Tabellen wirklich sind. Ich würde mal ganz kess behaupten, dass so manche Massnahme weniger bringt, als uns die Bauphysiker*innen erklären. 
Wir Architekt*innen sind im Grunde oft gezwungen, zu viel Zeit auf die Erfüllung teils widersprüchlicher Anforderungen zu verwenden, die dann für den Entwurf fehlt.

Hein architekten, «Kinderhaus Kennelbach», Wörgl, 2019 (Foto: David Schreyer)
Foto: David Schreyer
Foto: David Schreyer

MH: Das sehe ich positiver: Die meisten Dinge gehen doch, wenn die Bauherr*innen es wollen. Wir durften zum Beispiel den Kindergarten von Muntlix in der Vorarlberger Gemeinde Zwischenwasser gestalten, wobei die Vorgabe war, das Thema Nachhaltigkeit bis ins letzte Detail zu verfolgen. Unser Holzbau erreicht Passivhausstandard, das Konstruktionsmaterial wurde im Gemeindewald geschlagen. Alle Transportwege waren sehr kurz, die Handwerker*innen einheimisch. Auf Wunsch von Gemeinde und Pädagog*innen haben wir einen neun Zentimeter starken Stampflehmboden eingebaut, wobei Aushubmaterial eingesetzt wurde. Niemand beschwert sich jetzt, wenn die Hosen der Kinder vom Spielen Löcher bekommen oder mal ein Tisch auf Unebenheiten wackelt. Niemand fordert, dass wir haften.

SM: Ich denke, das Einbinden der Bauherrschaft ist ganz zentral. Wir haben kürzlich einen Umbau im Tösstal im Zürcher Oberland realisiert. Dort wurden heutige Vorstellungen von Bauphysik ausser Kraft gesetzt. Es gibt nur eine minimale Heizung, keine zusätzliche Dämmung; im Winter sind nicht alle Räume wohnlich. Aber die Bewohner sind glücklich, in einem so ursprünglichen Haus zu leben.

Fränzi Essler: Das sind schöne Geschichten, aber sie handeln von Luxussituationen. In einer so komfortablen Lage sind wir nicht. Wir bauen zu 80 Prozent Eigentumswohnungen. Hinter vielen Käuferinnen und Käufern steht ein Gutachter. Jede Abweichung von Normen und Baugesetzen führt sofort zu Ärger und Stress. Unsere Herausforderung ist, trotz aller Vorgaben und Bestimmungen sowie unter Beachtung der Forderungen der Fachplaner*innen eine anspruchsvolle Architektur zu schaffen, die man noch ansehen mag und die nicht einfach die «Verräumlichung» von Vorschriften ist.

SM: Du verstehst mich falsch, Fränzi, auch wir müssen uns zumeist an Normen und Baugesetze halten. Worauf ich hinaus möchte: Man muss einen konstruktiven Dialog mit der Bauherrschaft, den Nachbar*innen und Behörden führen, will man anspruchsvolle Architektur durchsetzen. 

WW: Einverstanden, aber wie macht ihr das? Wir erleben nämlich, dass sich die Leute immer öfter einmischen und dabei ihre persönlichen Interessen stets noch höher gewichten. Heute haben fast alle das Bedürfnis, sich zu äussern, selbst wenn sie ein Projekt allenfalls marginal betrifft oder sie sich in der Materie gar nicht auskennen. In Bayern gibt es seit etwa fünf Jahren gegen nahezu jedes Bauvorhaben eine Bürgerinitiative, ständig muss man juristische Auseinandersetzungen führen. Die Genehmigungsprozesse sind extrem langwierig geworden. Ich würde mir wünschen, dass die teils egoistischen Forderungen Einzelner wieder öfter zugunsten der Interessen der Allgemeinheit zurückstehen müssen.

SM: Wir suchen den Austausch, bevor wir uns offiziell um eine Bewilligung bemühen. Die Art der Kommunikation ist entscheidend. Manchmal ist ein Modell und ein Infoabend mit der Nachbarschaft richtig, ein andermal funktioniert ein gutes Gespräch über den Gartenzaun. Auf diese Weise kann man viele Reibungsflächen abbauen und 90 Prozent der Menschen abholen. Natürlich gibt es trotzdem immer Personen, die alles geduldig anhören, sich nett bedanken und dann doch einen Einspruch machen.
Ich plädiere auch deshalb für ein regionales Bauen: Über die Zeit lernt man die Menschen in seiner Stadt, in seiner Region kennen, man weiss um ihre Mentalität und kann ein Vertrauensverhältnis aufbauen. 

Marazzi Reinhardt, Umbau Wohnhaus «Wolfen», Sternenberg, 2019 (Foto: Ladina Bischof)
Foto: Ladina Bischof
Foto: Ladina Bischof
Foto: Ladina Bischof

EB: Die Auftraggeber*innen vieler Architekt*innen sind Bauträger und Projektentwickler. Sie geniessen nicht den besten Ruf in der Szene. Oft wird geklagt, sie seien in besonderem Masse für mässige Architekturqualität und eine langweilige Selbstnormierung im Wohnbau verantwortlich.

FE: Mein Vater arbeitete als Bauträger, wir waren zu Anfang unserer Karriere viel für ihn tätig – sogar im Vertrieb. Auch heute planen wir viel für Bauträger. Angeboten wird letztlich, wonach der Markt verlangt. Was in Wahrheit fehlt, ist ein Bewusstsein für Architekturkultur bei den Endverbrauchern.

SM: Aber trotzdem schafft ihr, herausragende Architektur zu machen. Wie geht das? Wie kann man Bauträger überzeugen?

WW: Trotz aller Klagen gibt es positive Entwicklungen: Gut gestaltete, langlebige und nachhaltige Bauten lassen sich in letzter Zeit immer besser vermarkten. Mit einem Mal ist es auch rein wirtschaftlich sinnvoll, dafür höhere Erstellungskosten in Kauf zu nehmen. Das erleichtert uns zusehends die Überzeugungsarbeit. 

FE: Zum Beispiel arbeiten wir gerade an Umbau und Sanierung des denkmalgeschützten «Derzbachhof», dem ältesten Bauernhaus auf dem Münchner Stadtgebiet. Es ist ein Projekt des Münchner Entwicklers Euroboden, das Konzept stammt von unserem Kollegen Peter Haimerl. Der historische Bauernhof wird hergerichtet und soll Gemeinschaftsräume und Wohnungen beinhalten, dahinter bauen wir ein neues Wohnhaus. Die Anlage wird ideal sein für Familien, sie werden im Garten Gemüse anbauen und Kleintiere halten. Dies ist möglich, weil unser Auftraggeber Architekturqualität längst als Verkaufsargument begreift und damit sehr erfolgreich ist. Ich bin zuversichtlich, dass dies mehr und mehr Nachahmer finden wird.

MH: Was Walter sagt, kann ich bestätigen. Wir wurden angefragt, eine kleine Wohnanlage in Götzis zu gestalten, und haben zur Bedingung gemacht, mit Holzfenstern und vor allem ohne Vollwärmeschutz zu bauen. Unser Auftraggeber, ein Vorarlberger Bauträger, hat sich trotz anfänglicher Bedenken darauf eingelassen und entdeckt, dass er dieses Konzept gut verkaufen kann. Zwischenzeitlich hat er uns mit einer zweiten Anlage nach demselben Prinzip beauftragt, und ich sollte in der Verkaufsbroschüre über Nachhaltigkeit in der Architektur sprechen. Die Aussicht auf ökonomischen Erfolg kann ein rasches Umdenken bewirken. Uns Architekt*innen kommen solche Argumentationen zuweilen schwer über die Lippen, sie helfen aber sehr, positive Veränderungen zu bewirken.

raumstation, Umbau «Dertzbachhof» mit neuem Wohnhaus auf dessen Grundstück, München (Visualisierung: Darcstudio)
raumstation, Umbau einer denkmalgeschützten Villa, München, 2017 (Foto: Nick Frank)
Der Bau wurde saniert und in drei Wohneinheiten aufgeteilt. (Foto: Nick Frank)
Foto: Nick Frank

EB: Fränzi, du hast gesagt, es fehle an Bewusstsein für gute Architektur bei den Endverbrauchern. Das hören wir sehr oft, auch an unseren beiden vorigen D-A-CH-Gesprächen wurde das beklagt. Doch was kann man unternehmen?

FE: Zunächst müssen wir vor allem die politischen Entscheidungsträger*innen adressieren. Bei uns in Starnberg befindet kein Fachgremium darüber, was gebaut werden darf, sondern ein Teil der gewählten Stadtratsmitglieder, der sogenannte Bauausschuss. Darin sind alle möglichen Berufsgruppen vertreten, aber praktisch keine Architekt*innen. Die meisten Ausschussmitglieder haben kein Fachwissen, sie argumentieren nach ihrem Geschmack oder vertreten ihre Partikularinteressen. Im Grunde ist schon vor den Debatten klar, welches Mitglied was sagen wird. Hier müsste man ansetzen und beispielsweise Touren für die Ausschussmitglieder durch den Landkreis organisieren, um zu erklären, warum gewisse Bauten architektonisch gelungen sind und andere nicht. Diese Idee möchten wir in der Zukunft gerne umsetzen. 

SM: Wir Architekt*innen befinden uns – wie auch in dieser Gesprächsrunde – in einer Blase. Wir gestalten zudem nur einen kleinen Prozentsatz der gebauten Umwelt. Ich finde es darum wichtig, Baukultur schon an den Schulen zu vermitteln. In der Schweiz haben unsere Berufsverbände SIA (Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein) und BSA (Bund Schweizer Architekten) mit dem gemeinnützigen Verein Archijeunes, der sich für die Sensibilisierung junger Menschen durch Workshops an den Schulen einsetzt, die Initiative übernommen.

MH: Weil du von einer Blase sprichst, Sergio – ich denke, das Entscheidende bei der Architekturvermittlung ist die Sprache. Und da liegt einiges im Argen: Wir Architekt*innen haben uns eine eigene Ausdrucksweise angewöhnt, mit der Aussenstehende kaum etwas anfangen können und die sie mitunter sogar befremdlich finden. Einer meiner Freunde ist Schriftsteller, er sagt, vor unserem Fachjargon grause dem Teufel. Darum gefällt mir sehr, dass das Vorarlberger Architektur Institut (vai) schon seit 2011 regelmässig in einer Wochenendbeilage der Tageszeitung Vorarlberger Nachrichten Bauten in allgemein verständlicher Sprache erklärt, damit viele Menschen abholt und neu für den Diskurs interessiert. Ich wünsch mir mehr solche Projekte.

SM: Ich bin im Vorstand des Architekturpreises Winterthur. Immer wieder bemängle ich dort, dass es eine Auszeichnung von Architekt*innen für Architekt*innen ist, ein grosses Schultergeklopfe alle vier Jahre, bei dem vielmal sogar dieselben Projekte mehrfach ausgezeichnet werden. Schön wäre doch, Richtung Baukulturvermittlung zu gehen, jedes Jahr ein Projekt zu zeigen und für die Bevölkerung in der Tagespresse umfassend aufzuarbeiten. Es ist schwierig mit diesen Ideen in der Architektengilde anzukommen. Doch langsam tut sich auch dort etwas.

EB: Umso mehr freut uns, wenn ihr beim Thema Architekturvermittlung am Ball bleibt und euch weiter für Architekturkultur einsetzt. Danke für das offene Gespräch.

Fränzi Essler leitet seit 2007 gemeinsam mit Tim Sittmann-Haury und Walter Waldrauch das Büro raumstation in Starnberg. Sie hat an der Universität von Florenz und an der TU Darmstadt Architektur studiert. Anschliessend arbeitete sie zunächst bei marchwell Architekten in Zürich und bei querkraft in Wien.
 
Walter Waldrauch stammt aus der Nähe von Wien. Er hat an der CVUT Prag und der TU Wien Architektur studiert. Er arbeitete für Mergenthal und Mikado Architekten in Wien.
 
 
Sergio Marazzi durchlief eine Lehre als Schreiner und war anschliessend selbstständig tätig. Nach einem Praktikum beim Architekturbüro Hopf & Wirth beschloss er, an der ZHAW Architektur zu studieren. 2004 gründete er ein gemeinsames Büro mit Andreas Reinhardt in Winterthur.
 
 
Matthias Hein hat an der Universität Innsbruck und der TU Wien Architektur studiert. 2002 gründete er ein eigenes Büro in Bregenz. Er engagiert sich in den Gestaltungsbeiräten von Kirchheim unter Teck (Deutschland), Langen bei Bregenz und Weiler.

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