Bergell: Aufzeichnungen eines Territoriums

Susanna Koeberle
30. september 2021
Die temporäre Nutzung der Crotti von Promontogno als Ausstellungsräume, in denen Arbeiten von Studierenden der ETH Zürich gezeigt werden, ist ein Beispiel für einen multi uso. (Foto: Dario Karakas, ETH Zürich)

Das Bergell, ein alpines Grenzgebiet zwischen dem Oberengadin und der lombardischen Ebene, ist ein vielschichtiges Territorium. Historisch war das Tal schon immer eine Transitgegend, was sich in den Bauten, der Kultur und der Sprache widerspiegelt. Das Bergell ist einerseits mit Schwierigkeiten konfrontiert, die typisch sind für den alpinen Raum wie etwa Abwanderung oder Leerstand, anderseits besitzt das Tal auch ganz spezifische Eigenschaften. Diese komplexen Zusammenhänge zu analysieren und sich damit auseinanderzusetzen, war eine Aufgabe, welche die Architektin Corinna Menn im Rahmen ihrer Gastdozentur an der ETH Zürich ihren Studierenden stellte. Das Architekturstudio befasste sich im Frühlingssemester eingehend mit diesen Fragen. Aufgrund der aktuellen epidemiologischen Lage war zwar keine Seminarwoche möglich, doch die Studierenden reisten auf eigene Faust ins Bergell und machten sich mit der Situation vertraut. Im Vorfeld analysierten sie verschiedene Aspekte der Region. Erst ein Erkunden vor Ort machte allerdings eine Überprüfung der erarbeiteten Thesen möglich. Dies obschon es Menn bewusst darum ging, einen spekulativen Freiraum zu ermöglichen, bei dem nicht zwingend eine Umsetzbarkeit der Projekte im Fokus stand. Die Bündner Architektin ist mit dem Thema der Aufgabe über ihren eigenen Praxishintergrund vertraut. Das Zusammenkommen starker Gegensätze im Tal hätte sie aber unabhängig davon schon immer fasziniert, erklärt sie im Gespräch. 

Wir treffen Corinna Menn im Bergell an der Präsentation der Arbeiten in den ehemaligen Crotti in Promontogno. Die 15 teilweise in Zweierteams erarbeiteten Projekte auszustellen, ist ihr wichtig. Die Auseinandersetzung der Studierenden mit dem Lebensraum Bergell sollte der Bevölkerung nicht vorenthalten werden; der Kontakt zu den Bewohner*innen erwies auch bei den Recherchen als fruchtbar. Und der Einbezug seitens lokaler Spezialist*innen – mit dabei waren etwa der Architekt Armando Ruinelli sowie das Büro Alder Clavuot Nunzi aus Soglio –  ermöglichte eine zusätzliche Reflexionsebene. Zudem möchte Menn mit der Umnutzung der Crotti zu Ausstellungsräumlichkeiten dazu anregen, vermehrt über solche neuen Nutzungen nachzudenken. «Der Umgang mit dem Bestand ist in architektonischer Hinsicht das Hauptthema im Bergell», sagt sie. Und weiter: «Die Ausstellung realisiert ein konkretes Exempel eines multi uso: Eine neue, wenn auch nur temporäre Nutzung gibt den leerstehenden Lagerräumen eine Bedeutung. Ort, Raum, Projekte und soziale Begegnung werden zum eigentlichen Werk».

Corinna Menn kennt sich mit alpinen Randgebieten auch aufgrund ihrer Praxis als Architektin gut aus. (Foto: Susanna Koeberle)

Ein wesentlicher Aspekt der Aufgabenstellung bestand in der Offenheit des Briefings: Es sollte nicht nur um Architektur gehen, sondern um das Territorium als Ganzes. Die obsolete Trennung zwischen Kultur und Natur ist heute wieder ein Thema, sie ist nämlich mitunter Teil einer weitreichenden Problematik. Die Kulturlandschaft als gesamten Beziehungsraum mitzudenken, ist ein erster Schritt, um Lösungen zu entwickeln und Veränderungen anzustossen. Im Bergell zeigen sich die Auswirkungen des Klimawandels besonders deutlich. Beim Bergsturz von Bondo im Jahr 2017 lösten sich Teile der Nordflanke des Piz Cengalo. Die Murgänge erreichten über das Val Bondasca die Ortschaft Bondo und richteten grosse Schäden an. Acht Menschen verloren dabei ihr Leben. Die Folgen dieses Ereignisses sind bis heute zu spüren, auch wenn die Menschen im Tal schon immer mit Naturgefahren gelebt haben. Die Öffnung des Themas des Architekturstudios für landschaftliche, kulturelle, soziologische bis hin zu botanischen Besonderheiten wurde gut aufgenommen: Die Arbeiten der Studierenden sind dementsprechend vielfältig, wie wir bei unserem Besuch feststellen konnten. Die Aufgabenstellung operierte mit dem Begriff des multi uso, einem Raum der Begegnung und Identifikation für das Bergell, der Vorhandenem nicht nur eine Multifunktionalität verleihen sollte, sondern auch neue Bedeutungsebenen als Zeitschicht der Gegenwart. Dies auch im Wissen, dass das Thema Identität insbesondere in einem durch verschiedene Kulturen geprägten Raum eine komplexe Angelegenheit ist. Ein solcher Ort wird häufig auch zur Projektionsfläche von aussen, welche die lokalen Realitäten nicht adäquat abbildet. Dieses vielschichtige Territorium sei deswegen umso spannender, findet Menn. Denn ländliche Brachen seien gerade im Zuge der Verstädterung unserer Landschaft von grosser Relevanz.

Bei ihren Recherchen machten die Studierenden spannende Entdeckungen – etwa zum Thema Leerstand: Dieser hängt nämlich nicht nur mit der Abwanderung zusammen. Er wird im Bergell dadurch begünstig, dass viele Häuser und Grundstücke durch Erbteilung traditionell mehrere Besitzer*innen haben. Dieser Umstand blockiere eine einheitliche Nutzung, weil sich die Parteien oft nicht einig seien, so Menn. Das habe aber paradoxerweise auch zur Konservierung vieler historischer Bauten beigetragen, erklärt die Architektin weiter. Auch soziologische Strukturen haben einen zentralen Einfluss auf den Umgang mit dem Territorium. Eine Arbeit hat sich direkt damit auseinandergesetzt: Anabell Fritsches und Friederike Merkel schlagen mit «Ciäsa Re-inabitata» vor, einen Verein zu gründen, der leerstehende Bauten einfach besetzt. Diese eher provokative Idee sehen sie als Instrument, dem fehlenden Leben in den Dörfern entgegenzuwirken. 

Die ausgestellten Modelle geben Einblick in die spekulativen Entwürfe der Studierenden. (Foto: Dario Karakas, ETH Zürich)

Besonders interessant sei für sie als Dozentin gewesen, zu sehen, wie sich in den Vorschlägen das Denken einer jungen Generation widerspiegle, sagt Menn. Das sei auch ein Zeichen für die Öffnung der Disziplin Architektur; denn zur Lebenswelt des Menschen gehöre eben auch die Natur. Dieser veränderte Architekturbegriff manifestiert sich auch in der diesjährigen Biennale in Venedig sehr ausgeprägt. Themen wie Nachhaltigkeit oder der Klimawandel sind auch in den Arbeiten zum Bergell präsent. Die Veränderung der Vegetation und der Kulturlandschaft aufgrund der Klimaerwärmung war der Ausgangspunkt der Arbeit von Dominic Deppeler und Michael Nelson. «Produktive Mauern» schlägt eine Wiederbelebung von Trockenmauern durch das Anbauen von Weinreben vor. Dadurch könnten diese zu Orten der Produktivität werden und neue Lebensräume schaffen. Im Bergell war und ist die Verarbeitung von Kastanien traditionell eine wichtige Einnahmequelle, mit dieser Tradition befasste sich etwa Lina von Waldkirch; neu dazu könnte der Wein kommen, wobei diese Idee noch einer genaueren Überprüfung standhalten müsste. Die Kulturlandschaft als Teil des Territoriums zu lesen, ist auch das Anliegen von Laura Berther und Fiona Wiesner. Ihr Projekt für eine Permafrost-Forschungsstation und eine Herberge am Septimerpass nahm sich die Themen Bergsturz und Klimawandel zu Herzen. Die beiden setzten sich dafür mit einer Umweltingenieurin in Verbindung und erarbeiteten sich so Fachwissen auf diesem Gebiet. 

An der Eröffnung der Ausstellung war auch die lokale Bevölkerung präsent. Die Studierenden hatten im Rahmen ihrer Recherchen guten Kontakt zu den Menschen vor Ort. (Foto: Dario Karakas, ETH Zürich)

Das Entwerfen eines öffentlich nutzbaren Raums stand im Zentrum weiterer Arbeiten. Da wurde eine Tankstelle zum Treffpunkt für Jugendliche oder eine Kirchenruine zur Location für ein Musikfestival. Wie man mit Kultur ein Randgebiet beleben kann, zeigt im Bergell übrigens die Initiative Progetti d’arte in Val Bregaglia, die vor über einem Jahrzehnt vom Churer Galeristen Luciano Fasciati ins Leben gerufen wurde. Nach Kunstprojekten an verschiedenen Orten im Tal – etwa im Hotel Bregaglia, im Palazzo Castelmur, in der Gegend um die Albigna Staumauer oder in Castasegna – fand letztes Jahr die erste Ausgabe der Biennale Bregaglia auf dem Hügel der Kirche Nossa Donna statt. Nächstes Jahr übernimmt das junge Kuratorenduo Anna Vetsch und Bigna Guyer die Leitung des Kunstevents. Das Bergell scheint eine fruchtbare Landschaft für das Untersuchen brennender Fragen unserer Zeit zu sein. Corinna Menn glaubt, dass ländliche Regionen wie das Bergell die Möglichkeit bieten, über die Beziehung zwischen architektonischer Intervention und Identität nachzudenken. Es gebe jedenfalls nicht nur den urbanen Raum als architektonisches Handlungsfeld, ist sie überzeugt. Es stelle sich heute auch die Frage, inwiefern periphere Gebiete eine Alternative zum urbanen Lebensraum darstellen könnten. Das sind Themen, denen sie auch in ihrer Arbeit mit den Studierenden nachgeht.

Die Ausstellung der Arbeiten in den ehemaligen Crotti (Via ai Crott, 7606 Promontogno) ist noch bis zum 10. Oktober dieses Jahres zu sehen. Die Crotti stehen offen.

Der Architekturbegriff verändert sich derzeit. Das zeigt sich auch an der aktuellen Architekturbiennale von Venedig. 

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