Unter den Wolken
Grenzenlose Freiheit gibt es nur über den Wolken. Gefühlte Freiheit im architektonischen Sinne erhält der Busreisende seit Kurzem im Schweizerischen Aargau, wo die Planer von Vehovar & Jauslin Architektur ein Luftkissendach erbaut haben, das wolkengleich zu schweben scheint.
An sich sind Konstruktionen mit Luftkissen aus Ethylen-Tetrafluorethylen-Folie (ETFE) heutzutage nichts Besonderes mehr. Meist findet man sie bei Bauten, wo es gilt, grosse Dach- und Wandflächen mit einer leichten Konstruktion zu erzeugen. Eines der bekanntesten Beispiele ist das «National Aquatics Centre» in Peking, in direkter Nachbarschaft zu Herzog & de Meurons «Bird‘s Nest». Die Konstruktionen mit Folienkissen funktionieren im Prinzip immer nach dem gleichen Modell: Eine Folie etwa aus ETFE – weil leicht, langlebig, witterungsbeständig und selbstreinigend – wird zu einer Fläche aus einzelnen Kissen verschweisst und mit Luft gefüllt. Damit das Kissen dann immer prall gefüllt ist und so nicht im Wind flattert, sorgt eine Stützluftzentrale dafür, dass Kisseninnendruck und Luftdruck im Aussenraum immer zusammen passen. Ausserdem wälzt sie die Kissenluft permanent mit sauberer und trockener Luft um, damit eventuell eindiffundierende Feuchtigkeit entfernt wird. Die gestalterischen Möglichkeiten sind bei dieser Art der Formgebung nahezu unbegrenzt, und so erdenken die Gestalter meistens freie Formen – das Material fordert dies geradezu!
Einen wichtigen Beitrag zu dieser grosszügigen architektonischen Geste leistet der Umgang mit dem Licht im Innenraum. Da das Gebäude zur Hälfte unterirdisch liegt und das Erdgeschoss zudem umgeben ist von einer alten, erhalenswerten Begrenzungsmauer, konnten die Architekten nur mit natürlichem Licht aus Oberlichtern arbeiten, was raumsensorisch natürlich keine wirklich gute Alternative darstellt. Umso zentraler ist also die Ausgestaltung des Kunstlichts, das von der Münchner Lichtplanerin Gabriele Allendorf entworfen wurde. Sie entwickelte für jede Raumsituation eine individuelle Lösung, die sich weit fernab von Standardlösungen bewegt. Im Foyer etwa wird durch Lichtvouten am oberen Wandabschluss die Decke grosszügig erleuchtet, wodurch die ansonsten nur von einem Oberlicht «gestörte» Decke federleicht auf den Wänden zu lagern scheint. Ein ähnliches Lichtspiel erwartet den Besucher im dahinter folgenden Kreuzgang, dessen umlaufender Deckenstreifen diesmal von im Winkel zwischen Boden und Wand liegenden Lichtstreifen beleuchtet wird. Ihr Abstrahlwinkel ist so eingestellt, dass das Licht die Wände nicht streift. Licht aus der umlaufenden, unteren Raumkante gibt es auch in der von hier aus erreichbaren Kapelle St. Maria. Im Inneren wird sie als homogener Körper bzw. Raum wahrgenommen, dessen Oberflächen nicht durch aufgesetzten oder hängenden Leuchten gestört wird. Für die Lichtplanerin sollte es darum gehen, den Raum so weit wie möglich in seiner Natürlichkeit und Klarheit zu erhalten. So wird auch hier die Decke (diesmal in spitzer Satteldachform) hell, gotisch anmutend erleuchtet. In der Kapelle verbergen sich noch weitere Raffinessen: Die von dem renommierten Künstler Johannes Schreiter entworfenen Fenster in der Nord- und der Südfassade sind in den Laibungen mit senkrechten Lichtbändern versehen, mit denen sich das Morgen- und das Abendlicht simulieren lässt, passend zur Morgen- bzw. Abendmesse, reicht das natürliche Licht von aussen einmal nicht zur Inszenierung der kunstvollen Fenster. Die Fassade der Kapelle aus tiefschwarzem Basalt wird ebenfalls von Lichtbändern im Boden beleuchtet, wodurch der wassergestrahlte Stein geheimnisvoll zu schimmern beginnt.
Eine leichte Bauweise stand auch auf der Wunschliste der Planungsteams des Daches für den Bushof im schönen Aarau, Hauptort des fast gleichnamigen Schweizer Kantons Aargau. Hier sollte nach einigen Jahren der Diskussion und Ideenfindung nun im Zuge des Bahnhofneubaus auch der Bahnhofsvorplatz komplett umgestaltet und «aufgeräumt» werden, sodass er wieder als städtebauliches Zentrum und Ruhepol zwischen der belebten Bahnhofstrasse und dem neuen Bahnhofgebäude erfahrbar wird. Gestalt prägend ist hier zweifellos das neue Dach des eigentlichen Busterminals, das im Volksmund liebevoll bereits «Wolke» genannt wird. «Von Anfang an wollten wir unter dem Dach eine räumliche Stimmung erzeugen, die derjenigen einer Waldlichtung ähnlich ist,» erläutert die Architektin Mateja Vehovar. So wählten die Planer eine Kissenkonstruktion, deren ETFE-Folien mit abstrakt organischen Bildern bedruckt sind. Dadurch entsteht darunter der Eindruck, als befände man sich unter einem Wolkenhimmel. Gestärkt wird diese Wirkung noch durch die freie Form des gesamten Daches, das die wichtigen Fussgängerbereiche abdeckt und in seiner Mitte ein grosses Loch bzw. die erwähnte Lichtung bereit hält. Die Tragkonstruktion – ein frei geformter Stahltisch – befindet sich im Inneren des Luftkissens, und so scheinen die unregelmässig angeordneten, schlanken Stützen, die in dem Luftkissen stecken, beinahe nicht zum Bauwerk zu gehören. Ein unregelmässiges Netz aus Stahlseilen auf beiden Aussenseiten gibt dem Kissen schlussendlich seine Form. Die notwendigen Leitungen für Entwässerung, Beleuchtung, Umluft und Messtechnik verlaufen unsichtbar im Inneren der Konstruktion. Besonders wichtig war den Planern bei alledem auch die Nachhaltigkeit: «Dank der ausgezeichneten Luftdichtigkeit der Kissenkonstruktion beschränkt sich Aufgabe der Lüftung beinahe auf die Anpassung des Luftdrucks im Dach an die sich verändernden Wetterbedingungen», erklärt Gerd Schmid vom Radolfzeller Ingenieurbüro formTL dazu. So ist das Aarauer Bushofdach mit 1070 m² überdachter Fläche, einer Kissenoberfläche von 2140 m² und einem Volumen von 1810 m³ (laut Planungsteams) das grösste Einkammer-Folienkissen der Welt. Für unseren Freund Otto Normalarchitekturfan ist es einfach eine wunderbare Mischung aus funktionaler Technologie und reizvollem Spiel mit der menschlichen Sinneswahrnehmung. Funktionale Kunst also, ein echtes Wahrzeichen für Aarau – und deswegen dann doch etwas Besonderes.
Bushofdach Bahnhofsplatz
Aarau, CH
Folien-Konfektionär
Vector Foiltec GmbH
Bremen, D
Kompetenz
ETFE-Folie 250 µm, klar und blau durchgefärbt, bedruckt
Folie: Nowofol Kunststoffprodukte GmbH & Co. KG
Siegsdorf, D
Bedruckung: Reisewitz Beschichtungsgesellschaft mbH
Penig, DE
Architekt
Vehovar & Jauslin Architektur AG
Zürich, CH
ARGE Bushofdach
Stahlbau: Ruch AG
Altdorf, CH
Technischer Folienbau: Vector Foiltec GmbH
Bremen, DE
Bauherr Bushofdach
Stadt Aarau, Stadtbauamt
Aarau, CH
Bauherr Bahnhofplatz
Stadt Aarau, Stadtbauamt
Kanton Aargau, Departement Bau, Umwelt und Verkehr
Schweizerische Bundesbahnen SBB
Aare Parking AG
Tragwerksplanung Bushofdach
formTL ingenieure für tragwerk und leichtbau GmbH
Radolfzell, DE
Planung und Lieferung Stützluftanlage
ELNIC GmbH
Rosenheim, DE
Generalplaner, Ingenieur Tiefbau
suisseplan Ingenieure AG
Aarau, CH
Lichtdesign
Atelier Derrer
Zürich, CH
Gestaltung Bedruckung
Vehovar & Jauslin Architektur AG
Zürich, CH
in Zusammenarbeit mit
Paolo Monaco, Visueller Gestalter FH
Zürich, CH
Elektroplanung
HEFTI. HESS. MARTIGNONI. Aarau AG
Aarau, CH
Windkanal
Wacker Ingenieure
Birkenfeld, DE
Fertigstellung
2013
Fotografie
Niklaus Spoerri
Mensur Zulji
Andreas Braun
Vehovar & Jauslin
formTL
Bau der Woche
im swiss-architects eMagazin
So leicht wie Luft
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