Die neue Unschuld
Thomas Geuder
21. 11月 2012
Manchmal lohnt der Blick nach oben, wie hier beim jüngst fertiggestellten Werk von Barkow Leibinger in Berlin. (Foto: FBF Betondienst GmbH)
Eine Fassade ist eben nur eine Fassade – denken viele und verzichten grosszügig auf den Blick nach oben. Nicht selten entgeht denen dabei aber Beachtenswertes. Wie zum Beispiel in der zurzeit entstehenden Berliner Europacity, in der der leuchtend weisse «Tour Total» mit elegantem Schwung aufwartet.
Ganz langsam, fast schon unbemerkt, tut sich was an der Fassade. Waren es in den letzten (sagen wir einmal grob) 20 Jahren vor allem die immer filigraneren und damit transparenteren Glasfassaden, die zum architektonischen Standard an Bürogebäuden wurden, ist zurzeit ein Trend hin zu mehr Masse und Material an der Aussenhaut zu beobachten. Bei manchem Architekten sowie Architekturkritiker wird diese Entwicklung ein leichtes, aber erleichtertes Seufzen hervorrufen. Denn irgendwie haben wir uns – neben der Begeisterung für räumliche Offenheit durch vollflächtige Glasfassaden – auch immer schon ein wenig gefragt, ob die neu gewonnene Durchflutung mit natürlichem Licht im Büro eigentlich auch von den Computerarbeitern gewollt ist oder nur architektonische Bauherrenspielerei ist. Die Baugeschichte lehrt uns zum einen, dass neue Möglichkeiten in der Bautechnik auch immer entsprechende Entwürfe hervorgerufen haben, stets nach dem Motto: Es wird gebaut, was machbar ist! Ganz bestimmt jedenfalls war es in den vergangenen Jahren schlicht und einfach schick, Glaspaläste zu bauen, die wie ein Kristall gen Himmel ragen und in diffuser, aber neugierig machender Art transparent wirkten, gleichzeitig den das Spiel des Himmels spiegelten und so den Bau seiner Masse entledigten. Grossartige Bauwerke sind dabei entstanden. Die Frage nach der Nutzbarkeit aber blieb hinter vorgehaltener Hand bestehen.
Transparenz in allen Ehren! Aber völlige Transparenz als architektonischer Ausdruck einer Institutionsphilosophie wie beim 1965 vom Architekten Paul Baumgarten gebauten Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gibt es meist weder bei den Firmen, die sich derartige Glaspaläste errichten, noch ist sie von erstaunlich vielen Mitarbeitern gewollt. Nicht nur, weil man beim Arbeiten auch mal seine Ruhe braucht, sondern auch weil die Sonneneinstrahlung die Sonnenseite ab und an dermassen aufheizt, dass jegliche Klimatisierung vergebliche Liebesmüh ist. Planer werden dem entgegnen, man könne für diesen Fall schliesslich Verschattungsmassnahmen einplanen, die sogar vollautomatisch regeln können, was der Mensch nicht zu tun vermag. Dass solchen Systemen Wind und Wetter gegenüber aber auch Grenzen gesetzt sind, weiss jeder, der schon hinter einer Glasfassade gearbeitet hat. Weg von der Glasfassade also?
Hinter dem Tour Total (im Bild rechts neben dem Gebäude) entsteht in den nächsten 15 Jahren die neue Berliner Europacity (Blick von Südosten auf das Gebäude). (Foto: Corinne Rose)
Eines ist klar: Das Zellenbüro mit kleinen Fenstern gehört der Vergangenheit an. Doch auch die vollflächige Glasfassade für Grossraumbüros scheint keine Lösung zu sein. Es muss also einen Weg dazwischen geben, und der bringt – womit wir am Kern der Freude wären – wieder Material an die Fassade. Material nicht unbedingt in Form filigraner Stahlkonstruktionen, sondern als Ausdruck einer architektonischen, steingewordenen Idee. Voll im Trend liegt da zum Beispiel: Weisszement. Weisszement (das nur als kurzer Überblick) ist ein Portlandzement, dessen Rohstoffmix jedoch sehr eisenarm ist. Wir kennen ihn aus so bekannten Projekten wie dem Bundeskanzleramt, der Mexikanischen Botschaftin Berlin oder dem Geschäftshaus in Stuttgart von Lederer Ragnarsdóttir Oei. Liebevoll wird er manchmal auch «Architekturbeton» genannt, doch das wird ihm nur bedingt gerecht. Denn Weisszement ist zunächst einmal ein Werkstoff, der wegen seiner Helligkeit vielfältig bespielt werden kann, entweder per Durchfärbung oder auch Bedruckung. In Sachen Festigkeit unterscheidet sich der Weiss- vom normalen Zement nur unmerklich, und so kann er für jede Bauaufgabe verwendet werden – wegen seiner aufwendigeren Herstellung macht eine Verwendung vor allem als Sichtbeton Sinn.
Auf der dreidimensional geformten Fassade entsteht ein Spiel aus Licht und Schatten, was ihre Plastizität noch zusätzlich betont. (Foto: Corinne Rose)
Sichtbeton als Fassadenmaterial? Ja, trotz fragwürdiger Beispiele aus der Vergangenheit geht das. In der richtigen Dosis und mit Weisszement. Frischestes Beispiel ist der erst vor wenigen Wochen fertiggestellte «Tour Total» in der derzeit neu entstehenden Berliner Europacity direkt hinter dem Hauptbahnhof. Bakow Leibinger Architekten haben hier gezeigt, wie intelligente Fassadenplanung mit weissem Beton funktioniert: Die gesamte Fassade besteht aus etwa 1.300 vorgefertigten Modulen, die sich alle vom selben Gestaltungsprinzip ableiten. Die vertikale Lisene jedes Moduls ist dreidimensional geformt und ergibt in der Doppelung ein «K». Mit diesen Grundelementen wird der Fassade nicht nur Masse zurückgegeben, sondern auch eine Plastizität, die am Ende Ähnliches erreicht, wie einst die Glasfassade – nur cleverer: Dem Baukörper wird seine Massigkeit genommen, und trotzdem wird der Innenraum mit viel Licht versorgt. Licht, das im Innenraum freilich von Fassadenstützen unterbrochen wird. Der Baukörper indes will sich durch seine Architektur nicht negieren, sondern trifft durch seine zweifellos vorhandene Materialität aus Weissbeton eine architektonische Aussage. Was Barkow Leibinger mit dem Tour Total geschaffen haben, ist ein zukunftsweisendes Beispiel moderner und guter Bürogebäude-Architektur, mit dem Verdienst, eine echte Alternative zur Beliebigkeit in Stahl und Glas zu liefern. Und: Weiss könnte in Zukunft sogar die Transparenz als vorherrschendes Stilmittel bei Bürogebäuden ablösen – nämlich als firmenphilosophischer Ausdruck der Unschuld.
Die Fassade als Leitmotiv der Dynamik, der Mobilität und der Bewegung: Der «Tour Total» transportiert die Themen des Nutzers auf die Fassade. (Foto: Corinne Rose)
Das nächtliche Beleuchtungskonzept wurde gemeinsam mit dem Studio Dinnebier aus Berlin entwickelt. (Foto: Johannes Foerster)
Eckdetail und Fassaden-Modul
Vertikal-Detailschnitt mit Teilansicht
Alle Fassaden-Module wurden bei der Firma Dreßler in Stockstadt vorgefertigt. (Foto: Barkow Leibinger)
Aufbau der Fassade
Fassadenelementierung durch K- und T-Module
Grundriss Regelgeschoss
Grundriss Erdgeschoss
Der Masterplan Berlin Heidestraße wurde durch das Planungsbüro ASTOC, Köln (Städtebau), Studio Urban Catalyst, Berlin (Freiraumplanung) und ARGUS, Hamburg (Verkehrsplanung), auf Basis eines preisgekrönten Wettbewerbsentwurfs im Jahr 2008 erarbeitet. (Foto: CA Immo)
Wiesbaden, D
Projekt
Tour Total
Berlin, D
Hersteller-Kompetenz
Weisszement
Architektur
Barkow Leibinger
Berlin, D
Bauherr
CA Immo Deutschland GmbH
Frankfurt am Main, D
Fassadenberater
Priedemann Fassadenberatung GmbH
Großbeeren/Berlin, D
Betonfertigteile
Dreßler Bau GmbH
Stockstadt, D
Statik
GuD Planungsgesellschaft Ingenieurbau mbH
Berlin, D
Nachhaltigkeitsberatung
Drees & Sommer, Berlin
Fertigstellung
2012
Fotonachweis
Corinne Rose
Johannes Foerster
FBF Betondienst
Barkow Leibinger
Projektvorschläge
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