Urban Forestry – neues Weiterbildungsprogramm der FH Graubünden
Manuel Pestalozzi
15. 6月 2022
Das grosse Gehölz mitten in Zürichs Stadtteil Oerlikon misst rund zwei Hektare. (Foto: Manuel Pestalozzi)
Bäume und Wälder im Siedlungsraum kommen dem Klimaschutz und der Biodiversität zugute. Sie verbessern unser aller Lebensqualität. In einem neuen CAS-Programm können Architekt*innen und andere Expert*innen ab 2023 lernen, sie zu pflegen.
«Urban Forestry» – was heisst das eigentlich? Dem möchte ich in diesem Artikel nachgehen. Dazu habe ich mit Andreas Bernasconi, dem Co-Leiter des gleichnamigen CAS-Programms (Certificate of Advanced Studies) der FH Graubünden, und anderen Verantwortlichen gesprochen. Frei lässt sich der Begriff als städtische Waldwirtschaft übersetzen. Doch Bernasconi und sein Team widersprechen: Der englische Begriff bedeute vielmehr «Urbane Waldwirtschaft». Die Waldwirtschaft im herkömmlichen Sinne dient der Pflege des Walds, zumeist mit einem kommerziellen Ziel. Auch diesbezüglich präzisieren die Verantwortlichen des neuen Lehrgangs: Zur Waldwirtschaft gehören beispielsweise auch die Förderung und der Erhalt von Waldreservaten. Sie verhindert den Urwald, wobei es solche Wälder heute praktisch nicht mehr gibt – zumindest in Europa.
«Wir unterscheiden bei Urban Forestry zwischen Urban Forest und Urbanem Wald», erklärt Andreas Bernasconi. «Der Urban Forest umfasst alle baumdominierten Strukturen im Siedlungsbereich. Er ist die Summe aller Bäume im und um Siedlungen und die sie begleitenden Ökosysteme. Der Urbane Wald hingegen ist der Wald im Sinne des Waldgesetzes, welcher im unmittelbaren Einflussbereich des Siedlungsgebietes steht. Der Urbane Wald ist ein Teil des Urban Forest. Letzterer kann ganz verschiedene Ausprägungen haben: Einzelbäume, Alleen, Parks sowie Gehölze und Wälder. Unterholz und Waldränder sind eher typische Elemente des Urbanen Waldes.»
Der High Line Park in New York – ein Urban Forest über dem Strassenniveau (Foto: Dansnguyen via Wikimedia Commons, CC0 1.0)
Für Lebensqualität und KlimaschutzInnerstädtische Baumpflege gibt es wohl, seit es Städte gibt. Sie regelt die Begrünung des öffentlichen, teilweise auch des privaten urbanen Raums. Bäume anzupflanzen ist schon lange Teil des Städtebaus. Seit der Klimawandel aber immer stärker ins öffentliche Bewusstsein rückt, erhalten Pflanzen im Stadtraum neue Aufmerksamkeit. Urban Forestry ist eine globale Aufgabe. Es geht darum, einen wichtigen Beitrag zum Kampf gegen die Erderwärmung zu leisten und die Lebensqualität der Menschen in der Stadt zu verbessern.
Organisationen wie das seit 1998 bestehende European Forum on Urban Forestry (EFUF) sammeln Ideen und Erfahrungen. Sie führen Veranstaltungen durch, die dem Wissensaustausch dienen. In der Schweiz tauschen sich Fachleute ausserdem im ArboCityNet, dem Schweizer Netzwerk für Urban Forestry, aus. Zudem gibt es inzwischen den von Bianca Baerlocher am Institut für Multimedia Production (IMP) der FH Graubünden entwickelten Urban-Forestry-Podcast bei Spotify. Im Fokus stehen dabei Beiträge verschiedener Personen, die mit Bäumen in der Stadt zu tun haben.
Bäume können im Stadtraum auch aus pragmatischen Gründen gepflanzt werden, etwa zur Uferbefestigung, wie dieses Bild aus Amsterdam zeigt. (Foto: Fons Heijnsbroek via Wikimedia Commons, CC0 1.0)
Wie ist das CAS-Programm aufgebaut?Der Niederländer Cecil C. Konijnendijk, der Mitglied des Steering Committee des EFUF ist, gliedert den Urban Forest in folgende Kategorien:
- Neubepflanzte Brachen
- Zurückgewonnene Waldflächen
- Waldflächen über dem Strassenniveau
- Vertical Forests, integriert in Hochhäuser
- Umgepflanzte Wälder
- Wilde Wälder
- Imaginäre Wälder
Diese Liste zeigt, wie vielschichtig das Thema ist. Grundsätzlich geht es jedoch immer darum, die Stadtbewohner*innen einzubeziehen. Urban Forestry ist eine politische Disziplin.
Die Vermittlung des Themas in all seinen Facetten stellt denn auch ein Grundanliegen des CAS Urban Forestry dar, das über das IMP der FH Graubünden organisiert wird. Den Lehrgang gestaltete eine transdisziplinäre Gruppe, an der neben der FH Graubünden auch die Berner Fachhochschule, die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, die Hochschule Rapperswil (heute Teil der Ostschweizer Fachhochschule OST), die Natural and Resource Policy Group (NARP) der ETH Zürich, hepia, die Stiftung SILVIVA, der SIA Fachverein Wald, Arbor Aegis und der Kanton Waadt beteiligt waren. Das CAS-Programm besteht aus fünf thematischen Fachkursen – Gesellschaft und Kommunikation, Baum und Wald, Umwelt und Ökologie, Urbane Landschaft sowie Stadt – und einem transdisziplinären Praxismodul. Die Basismodule verknüpfen naturwissenschaftliche, gesellschaftliche, kulturelle und administrative beziehungsweise organisatorische Themen.
Zum Zielpublikum gehören ausdrücklich auch Architekt*innen und Stadtplaner*innen. Wer das CAS erworben hat, soll in neuen integralen Berufsfeldern arbeiten, die städtische Infrastruktur, Grünraumbewirtschaftung sowie Baum- und Waldmanagement miteinander verbinden. Die Absolvent*innen sollen in der Lage sein, komplexe Entscheidungsprozesse mit ihrem breiten Wissen zu unterstützen. Die obersten Ziele sind ein nachhaltiger Umgang mit Stadtbäumen und die Sicherung eines zukunftsfähigen Baumbestandes in den Städten.
Der OCBC Skyway in Singapur verläuft über einer zurückgewonnenen Waldfläche. (Foto: Allie Caulfield via Wikimedia Commons, CC BY 2.0)
Was wir unter Wald verstehen, ist kulturell determiniert.Unsere Vorstellung von Wald hängt stark von unserem jeweiligen kulturellen Hintergrund ab. «Es gibt zahlreiche Untersuchungen zum Naturverständnis der Bevölkerung», sagt dazu Andreas Bernasconi. «In der Tat variiert dieses unter Umständen beträchtlich zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und je nach Erfahrungs- und kulturellem Hintergrund der Menschen.» Doch die Grundidee von Urban Forestry bleibt immer dieselbe: Bäume im Siedlungsraum zum Wohle der Menschen und der Natur erhalten und pflegen.
Die Schweiz hat dank ihres Waldgesetzes aus dem 19. Jahrhundert vergleichsweise viele Urbane Wälder, sowohl am Rand des Siedlungsgebietes als auch an Flüssen und Geländestufen. Die Zugänglichkeit dieser Bereiche ist genau geregelt: «Der Urbane Wald ist öffentlich zugänglich (ZGB 699)», stellt Bernasconi fest. «Eine Beschränkung der Zugänglichkeit ist in der Regel nicht möglich, respektive nur dann, wenn besondere Gründe dies erforderlich machen, etwa der Schutz von Jungwald vor Verbiss durch Einzäunung. Bei den Bäumen ausserhalb des Waldareals, die zum Urban Forest zählen, kommt es auf die Eigentumsverhältnisse an.»
Handelt es sich bei Wäldern und Pflanzen im Stadtraum um Wildnis? Auch das hängt ein Stück weit vom Betrachter und dessen kulturellem Hintergrund ab. «Der Urban Forest hat an sich nichts mit künstlich oder natürlich zu tun», stellt Bernasconi klar. «Die Frage der Wildnis spricht zwei verschiedene Dimensionen an; zum einen kann sie im Sinne von ‹wilder Natur› gemeint sein. Dann bezeichnet sie vor allem Biotope und geschützte Naturräume. Zum anderen kann sie das Gegenstück zur Technik und zur durchorganisierten modernen Gesellschaft bezeichnen. Dann kann jeder einzelne Baum ein Stück Wildnis sein. Die Urban Foresterin Naomi Zürcher sagt es so: ‹You can take out a tree from the forest, but you can never take out the forest from a tree›. Für viele Menschen ist der Urbane Wald an sich ‹Wildnis›. Dies ist aber eine Fehleinschätzung, denn der grösste Teil des Waldes ist Kulturwald und wird gepflegt und bewirtschaftet.»
Ein wichtiger kultureller Aspekt ist schliesslich jener des «Heimatschutzes». Sollen in unseren Städten vor allem einheimische Gewächse anzutreffen sein? «Hier gilt es zwei Aspekte zu unterscheiden», antwortet mir Andeas Bernasconi, «einerseits stellt sich die Frage, ob die heimischen Arten angesichts des stattfindenden Klimawandels geeignet sind, um den künftigen urban geprägten Einflüssen Stand zu halten. Hier findet aktuell unter Fachleute eine Auseinandersetzung statt. Sie sind auf der Suche nach einem zweckmässigen Weg, der den Zielen der Biodiversitätsförderung und jenen der Klimaadaptation gerecht wird. Ausserdem gilt es, Lösungen im Umgang mit Neophyten (gebietsfremde Arten) finden. Die meisten Städte sind daran, entsprechende Strategien zu entwickeln; hier ist oft die ganze Bevölkerung direkt angesprochen.»
Im Leutschenpark im Norden des Zürcher Stadtgebiets wurde ein kleines Wandstück mit einer Mauer, dem sogenannten «Baumtopf», eingefasst. Es ist unzugänglich, weil der Boden zu stark belastet ist. Das Beleuchtungskonzept stammt von Christopher T. Hunziker. (Foto: Christopher T. Hunziker via Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)
Welche Aufgaben erwarten die Absolvent*innen?Fachleute mit dem neuen CAS in der Tasche sollen das Leben der Menschen in der Stadt angenehmer und erträglicher machen. Dabei müssen sie sich besonders für die Belange der Pflanzen einsetzen, damit diese überhaupt gedeihen können. Denn der Stadtraum bietet ihnen meist schlechte Bedingungen. «Bäume haben es im Siedlungsraum oft nicht einfach», meint Andreas Bernasconi. «Häufig ist der Platz für ihr grosses Wurzelwerk nicht vorhanden. Dadurch steigt die Gefahr der Austrocknung. Durch den Klimawandel werden die Bedingungen in den nächsten Jahrzehnten noch extremer werden.» Dies spielt auch eine Rolle in der Debatte um die Wahl von einheimischen oder fremdländischen Baumarten. «Die wichtigsten Punkte zum Schutz der Bäume und zur nachhaltigen Sicherung von deren Aufkommen sind das vorhandene Bodenvolumen, die Qualität des Bodensubstrats und die fachgerechte Pflanzung und Pflege», betont Bernasconi.
Ein Ziel von Urban Forestry sind neu bepflanzte Brachen. Kann man sich eine solche urbane Aufforstung in der Schweiz vorstellen? Sie wäre jedenfalls sinnvoll und auch möglich. «In vielen Gemeinden gibt es im Siedlungsgebiet ungenutzte Grundstücksflächen, die sich gut eignen, um mit gezielter Gestaltung Lebensräume aufzuwerten», meint Bernasconi. «Das Potenzial für zusätzliche baumbestückte Flächen ist beträchtlich, bedarf aber einer sorgfältigen Planung und städtebaulichen Einbettung.» Auch bei der Reinigung verseuchter Böden kann Urban Forestry helfen. «Die Regenerierung von Flächen ist eine der vielen Ökosystemleistungen von Bäumen», erklärt mir Bianca Baerlocher. «So werden», fährt sie fort, «etwa die Hängebirken bereits zur Sanierung von kontaminierten Böden eingesetzt, weil sie industrielle Schadstoffe und Schwermetalle in ihrem Gewebe speichern können. Forschende haben kürzlich herausgefunden, wie die Hängebirken während der Wachstumsphase auch Mikroplastik über die Wurzeln aufnehmen.»
Es gibt also hierzulande für die neu ausgebildeten Expert*innen viel zu tun. Zu den beruflichen Perspektiven der Absolvent*innen des CAS Urban Forestry sagt Bianca Baerlocher: «Das vermittelte Wissen befähigt dazu, in interdisziplinären Teams die Brücke zwischen Städtebau, Baukultur, den Bedürfnissen der urbanen Menschen sowie der baumbasierten ökologischen Infrastruktur zu schlagen und nachhaltige Lösungen zu entwickeln; die Absolvent*innen kennen Anforderungen, Voraussetzungen und Hebel, um eine zukunftsfähige grüne Stadtentwicklung zu ermöglichen.» Das CAS Urban Forestry beginnt im März 2023. Studienorte sind dann Bern, Zürich und Rapperswil.