Gebaute Poesie – zum Tod von Jörg Schlaich

Falk Jaeger
8. 9月 2021
Jörg Schlaich im Jahr 2013 (Foto: Amin Akhtar)

Der Zungenschlag war nicht zu überhören, Jörg Schlaich war in der Wolle gefärbter Schwabe. Er wurde 1934 im Weinort Kernen bei Stuttgart geboren. Nach der Schulzeit in Stetten und Waiblingen, also nicht gerade in Weltstädten, lernte er erst «etwas Ordentliches», Schreiner nämlich, bevor er in Stuttgart und Berlin Bauingenieurwesen studierte. Seine schwäbisch-pietistische Prägung im elterlichen Pfarrhaushalt hielt ihn nicht davon ab, sich in der Welt umzusehen. Er arbeitete zum Beispiel in Cleveland (Ohio) als Assistent für Stahlbetonbau und machte dort seinen Master.

In Stuttgart gab es zu jener Zeit einen Staringenieur, Fritz Leonhardt, den Pionier der Fernsehtürme. In dessen Büro trat Schlaich 1963 ein, wurde sieben Jahre später Partner und blieb, bis er sich 1979 zusammen mit Rudolf Bergermann selbstständig machte. Schlaich beerbte Leonhardt 1974 auch auf dessen Lehrstuhl für Massivbau an der Universität Stuttgart, den er 27 Jahre lang führte. Dort prägte er als Lehrer Generationen von Bauingenieuren. Er trug massgeblich bei zum Ruf Stuttgarts als Mekka international führender Ingenieure und Tragwerksplaner, für das weitere Protagonisten des experimentellen Bauens wie Frei Otto, Werner Sobek, Jan Knippers, Achim Menges und das Büro Transsolar stehen.

Die Fussgänger- und Fahrradbrücke «Erzbahnschwinge» im Westpark in Bochum (Foto: NatiSythen via Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)

Jörg Schlaich hatte drei grosse Leidenschaften: Brückenbau, Leichtbau mit Seilnetzkonstruktionen und die Förderung der Solarenergie. Und immer war ihm die Gestaltung ein besonderes Anliegen, auch die Zusammenarbeit mit fähigen Architekten. Im Hochbau sah er seine Aufgabe darin, die Ideen der Architekten baubar zu machen. Oft war er der entscheidende Mann im Hintergrund, der die Dinge erst ermöglichte – das ikonische Dach des Münchner Olympiastadions zum Beispiel, das in der öffentlichen Wahrnehmung mit den Namen Frei Otto und Günter Behnisch verknüpft ist. So entstanden in kongenialer Zusammenarbeit Bauten wie die Alsterschwimmhalle in Hamburg (1973, mit Walter Neuhäußer) oder das Züblin-Haus in Stuttgart (1984, mit Gottfried Böhm).

Blick vom Olympiaberg auf das Münchner Olympiastadion (Foto: Amrei-Marie via Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0)

Bei Brückenbauwerken sind Ingenieure meist auch Gestalter. Sehr zum Leidwesen von Jörg Schlaich, der oft genug die Misere der deutschen Brückenbaukunst anprangerte; so zum Beispiel bei den unzähligen Brücken der Deutschen Bahn (DB), deren unsensible, die Landschaft zerstörende Gestalt immer wieder seinen Zorn weckte. Darum erarbeitete er schliesslich 2008 im Auftrag der DB den «Leitfaden Gestalten von Eisenbahnbrücken». Seitdem hat sich einiges gebessert, haben neue Projekte sogar Brücken- und Ingenieurbaupreise erringen können.

Bei den eigenen Brücken schien es, dass er, vom Beton-Massivbau her kommend, immer mehr das Leichte und Filigrane suchte und so zwangsläufig zu Hänge- und Netzkonstruktionen gelangte. Gebaute Poesie sind die Fussgängerbrücken für die Internationale Gartenausstellung (IGA) 1993 in Stuttgart, die «Erzbahnschwinge» in Bochum und die «Grimberger Sichel» über den Rhein-Herne-Kanal, die allesamt keine simplen Stege waren, sondern die Menschen mit ihren besonderen und eleganten Formen begeisterten – so sehr, dass sie Kosenamen erhielten. Formen im Übrigen, die dem Bestreben erwuchsen, die Ingenieurtechnik auszureizen und immer grössere Leistung mit immer weniger Materialeinsatz zu schaffen. Denn Jörg Schlaich war überzeugt davon, dass es Aufgabe der Ingenieure sei, das Bauen zu minimieren, nachhaltig zu agieren und die Umwelt soweit als möglich zu schonen. Frühzeitig hat er sich deshalb der Nutzung der Sonnenenergie zugewandt. Sein Herzensprojekt, das Aufwindkraftwerk, das er viele Jahre lang unermüdlich propagierte, ist zu seinem Leidwesen nicht über einen kleinen Prototypen (1981–1986) in Spanien hinausgekommen. Grössere Projekte in Australien und Namibia scheiterten an der Finanzierung.

Aussichtsturm im Stuttgarter Höhenpark Killesberg (Foto: pjt56 via Wikimedia Commons, CC BY 3.0)

Längst ist das Büro schlaich bergermann partner zum international agierenden Unternehmen mit Filialen von New York bis Shanghai gewachsen. Es wird heute von Jörgs Sohn Mike Schlaich und den Partnern Knut Göppert, Andreas Keil, Sven Plieninger, Knut Stockhusen und Michael Stein getragen. Elegante WM-Stadien entstanden in aller Welt (selbstredend mit Seilnetzdächern), Brücken von Seattle bis Neu-Delhi, Hochhäuser in Manhattan, technisch immer an der Spitze der Entwicklung. Jörg Schlaich ist am 4. September im Alter von 86 Jahren gestorben. Sein Forscher- und Erfindergeist lebt im Büro fort.

Jörg Schlaich und Rudolf Bergermann (Foto © schlaich bergermann partner)

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