Stuttgart 21 – was war, was kommt?
Ursula Baus, Christian Holl
19. 1月 2011
Die Schlichtung ist beendet, Heiner Geissler kann gehen. Ob sie dauerhaft die aufgewühlte Stadt befriedet, hängt unter anderem davon ab, wie seriös die Befürworter mit ihrem Ergebnis umgehen. (Bild: Landeshauptstadt Stuttgart)
Wochenlange protestierten im Sommer 2010 regelmässig viele Zehntausende gegen Stuttgart 21. Mit der spektakulären Schlichtung im Herbst, die Millionen Menschen wochenlang über das Internet und das Fernsehen verfolgt haben, schien ein vorläufiges Ende der Proteste erreicht zu sein. Weit gefehlt! Welche Konsequenzen aus den Schlichtungsergebnissen zu ziehen sind, wie und wo man sich über Stuttgart 21 informieren kann und wie die Diskrepanzen zwischen lokaler und überregionaler Berichterstattung zu erklären sind, erläutern Ursula Baus, Christian Holl und Simone Hübener. Die drei Redakteure des deutschen eMagazins leben in Stuttgart.
Die Schlichtung, die zu spät kamAm 30. September 2010 eskalierte die Konfrontation – die Polizei setzte Wasserwerfer und Tränengas gegen jugendliche Projektgegner ein. Viele wurden verletzt, der öffentliche Druck erzwang eine lange überfällige Schlichtung, in der öffentlich Für und Wider des Projekts diskutiert und transparent gemacht wurden und in der Stuttgart 21 einer Alternativplanung (Beibehaltung und Ertüchtigung des bestehenden Bahnhofs) gegenübergestellt wurde. Die Schlichtung unter der Leitung des erfahrenen Heiner Geissler deckte Schwächen in der Argumentation beider Seiten auf, machte aber vor allem deutlich, dass die politische Motivation, Stuttgart 21 zu bauen, die sachliche Faktenlage mitunter erschreckend unberücksichtigt liess. Und sie machte deutlich, dass die Alternative, anders als oft behauptet, konkurrenzfähig ist.
Der (unverbindliche) Schlichterspruch Geisslers befürwortete die Fortsetzung von Stuttgart 21 als «Stuttgart 21 plus» mit deutlichen Forderungen nach Verbesserungen im Bahnhof in puncto Sicherheit und Kapazität sowie bei der Stadtplanung. Eine Stiftung soll nun eine gute Planung gewährleisten – die Stadt sieht sich offensichtlich dazu nicht in der Lage. Geisslers Forderungen (wie die Erweiterung der Gleise von 8 auf 10) wurden schon seit Jahren erhoben, waren aber ignoriert worden. Einige der Schlichterforderungen werden von einer Simulation des Betriebs unter Extrembedingungen – einem «Stresstest» – abhängig gemacht. Geissler verteidigte seinen Spruch mit den bereits weit fortgeschrittenen Planungen. Der Planungsstand wurde aber nicht erst in der Schlichtung bekannt. Man musste sich daher fragen, warum die Projektgegner eine Alternative überhaupt vorstellen durften – Alternativen wurden auch hier nicht gegeneinander abgewogen. Die Schlichtung krankte daran, zu spät durchgeführt worden zu sein; daran, dass auch diesmal, wie schon bei einer Bürgerbeteiligung 1997, eigentlich nichts mehr zu entscheiden war. Die Asymmetrie von Geld und Macht zwischen beiden Seiten, nur kompensiert durch ein hohes ehrenamtliches Engagement der Gegner, hat die Schlichtung nur bestätigt. Letztlich blieben auch gestalterische Qualitäten in Städtebau und Bahnhofsplanungen unberücksichtigt. Ob sich das Modell der Stiftung für den grossmassstäblichen Städtebau eignet, ist umstritten. Dass die Befürworter erst nach einer dramatischen Eskalation in die Schlichtung einwilligten, lässt nach wie vor an ihrer Glaubwürdigkeit zweifeln. Insofern war die Schlichtung eher ein Verfahren zur Beruhigung der eskalierten Situation, der Schritte einer echten, mit Entscheidungen verknüpften Beteiligung und einer deutlichen Verbesserung von Stuttgart 21 folgen müssen, soll sie nicht umsonst gewesen sein. Christian Holl
Demonstration im Januar 2011: Die Projektgegner sind hartnäckig und wind- und wetterfest. (Bild: Simone Hübener)
Von internationalem InteressePlötzlich, in der ersten Jahreshälfte 2010, tauchten die Proteste in den überregionalen und internationalen Medien auf: Stuttgart 21 war Thema der Tagesschau, landete auf dem Titel der BILD-Zeitung, beschäftigte die politischen Leitartikel und die Titelkommentare der Feuilletons. Und wir, die wir hier in Stuttgart leben, mussten uns abenteuerliche Fragen anhören: Was ist denn bei euch los? Ist es gefährlich, mit der Bahn nach Stuttgart zu fahren? Merkwürdig war aber, dass durchweg immer die Frage gestellt wurde: Wieso protestiert ihr erst jetzt? De facto mussten wir feststellen, dass die überregionale Presse «second hand» berichtete und nicht zur Kenntnis nahm, dass die Geschichte des Widerstands gegen Stuttgart 21 so lang ist wie die Geschichte des Projektes. Wie dieser Widerstand hier vor Ort aber von den «Machern» abgewiesen wurde – zum Beispiel bei der Frage nach einer Volksbefragung –, liess den Verdruss erst wachsen. Und erst, als die Demonstrationen jene Bilder lieferten, nach denen die Medien lechzen, war die überregionale Aufmerksamkeit geweckt.
Wie schon angesprochen, stellt sich nach der Schlichtung eine gewisse Ratlosigkeit ein. Berechtigte Hoffnungen durfte man hegen, dass die Planungsprozesse für Grossprojekte in Zukunft anderes, bürgernäher organisiert werden, so dass Bürger nicht nur Einspruch erheben dürfen, sondern konstruktiv beteiligt werden. Eine Nachricht aus der vergangenen Woche lässt allerdings das Schlimmste befürchten: Das deutsche Planfeststellungsverfahren sieht den öffentlichen Erörterungstermin vor – genau den möchte die Bundesregierung, um die Verfahren zu «vereinfachen und beschleunigen», den Behörden anheim stellen. Das heisst, die Behörden können nach eigenem Ermessen entscheiden, ob ein solcher öffentlicher Termin stattfinden soll oder nicht.
Es wäre sinnvoll, die Prozesskultur auf internationaler Ebene und bürgernah zu gestalten, denn mehr und mehr Grossprojekte sind grenzüberschreitend angelegt – man denke nur an den Gotthard-Tunnel und die Nord-Süd-Schienenverbindung über und durch die Alpen und andere Verkehrsprojekte. Stuttgart 21 muss der Anfang einer besseren Planungskultur sein. Sonst sind internationale Proteste vorprogrammiert. Ursula Baus
Die Gegnerschaft ist nicht homogen, sondern setzt sich aus vielen Interessensgruppen und Kapazitäten zusammen. «Den Gegner von Stuttgart 21» analog zu «dem Atomkraftgegner» schlechthin gibt es nicht.
Wo kann man sich informieren?Die (traurige) Geschichte von Stuttgart 21 ist lang – so lang, dass es unmöglich ist, die vergangenen Jahre in nur wenigen Sätzen zusammenzufassen. Doch weil das Internet (noch) nichts vergisst – in Deutschland könnte das nach Willen der Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner bald anders werden –, kann man sich dort ausführlich über Positives und Negatives, Amüsantes und Trauriges, Wahres und Falsches informieren. Eine vollständige Liste werden wir Ihnen hier allerdings auch nicht bieten können.
Informationen gegen den geplanten unterirdischen Durchgangsbahnhof, Wissenswertes zum Erhalt des bestehenden Kopfbahnhofs und der alten Bäume im Schlossgarten, der sich entlang des noch stehenden Südflügels erstreckt, finden sich hier:
www.kopfbahnhof-21.de: Dahinter steckt ein Aktionsbündnis aus verschiedenen Organisationen, angefangen beim BUND über den Verkehrsclub Deutschland bis hin zum Architekturforum Baden-Württemberg.
www.bei-abriss-aufstand.de: Trägerverein dieses Aufstands ist Umkehrbar e.V. – Verein zur Förderung der Zivilgesellschaft. Neben zahlreichen Infos kann man auf dieser Webseite auch per Webcam in den Schlossgarten schauen.
Nicht fehlen dürfen natürlich auch die Parkschützer, die sich – wie der Name bereits vermuten lässt – für den Erhalt der alten Bäume im Schlossgarten engagieren.
Und dass schon lange nicht mehr nur Stuttgarter gegen das Milliardenprojekt auf die Strasse gehen und sich engagieren, beweisen unter anderem die Reutlinger gegen Stuttgart 21.
Warum wir Stuttgarter den neuen Durchgangsbahnhof und die Schnellbaustrecke angeblich dringend brauchen und die freiwerdenden Gleisflächen eine Chance für die Stadtentwicklung darstellen, erfahren Sie auf den folgenden Seiten:
wirsindstuttgart21.de, www.stuttgart21-ja-bitte.de, www.prostuttgart-21.de und natürlich ganz Offiziell auf den Seiten der Stadt Stuttgart.
Profund in den stadtplanerischen und planungstheoretischen Fachdiskurs eingebunden wird das Projekt in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Planung neu denken. Hier zählt Wolf Reuter allein 17 Versäumnisse der Planungskultur auf, die zu den Protesten des Sommers 2010 führten.
Nicht nur Pro und auch nicht nur Contra ist die Berichterstattung der Stuttgarter Zeitung, eine der beiden grossen Tageszeitungen der Stadt. In einer Sonderbeilage, die der Ausgabe vom 25. September 2010 beigelegt war, hat die Redaktion verschiedene Berichte zu Fakten, Streitpunkten und Perspektiven zusammengefasst, wie es im Untertitel heisst. Als pdf-Dokument kann sie hier heruntergeladen werden. Und was natürlich auch nicht fehlen darf und ständig auf dem Laufenden gehalten wird, ist das Stuttgart21-Tagebuch auf der Webseite der Architekturzeitschrift Baumeister, das von Ursula Baus und Christian Holl mit Neuem zu diesem Thema gefüllt wird. Simone Hübener