Folgen der Witterung
Manuel Pestalozzi
2. 3月 2017
Wie ein künstlicher Schatten legt sich eine Witterungsspur über den Balkon des Handelshauses Fierz in Zürich, einem Werk von Gottfried Semper. Bild: Manuel Pestalozzi
Ist ein Bauwerk fertiggestellt, muss es Wind und Wetter trotzen. Beides hat die Tendenz, Spuren zu hinterlassen. Soll man sie als Makel sehen und bekämpfen? Oder sind sie der «Finish der Natur»?
Bauwerke haben die Aufgabe, dem Wetter zu widerstehen und Schutz zu gewähren. Aus dieser Warte gesehen, sind Sonnenlicht, Regen, Wind und Schnee «Feinde», die es abzuwehren gilt. Das geschieht nicht ohne Kampfspuren und Narben. Die Veränderungen auf Dachflächen und Fassaden kann man als Zeichen der Alterung und der graduellen Zerstörung des architektonischen Projektes interpretieren. Es ist aber auch möglich, in ihnen die finale Oberflächenbehandlung zu sehen, welche das Bauwerk mit seinem Standort und dem Wandel der Natur und der Jahreszeiten versöhnt.
In der gängigen Sichtweise übergibt die Architektin oder der Architekt das Objekt seinen Auftraggebenden und den Nutzerinnen und Nutzern in einem vordefinierten Zustand der Vollkommenheit. Gehört die Behandlung der äusseren Oberflächen zum Auftrag, so werden diese wohl frisch und neu sein. Was anschliessend geschieht braucht das Planungsteam nicht zu interessieren, solange Veränderungen nicht als eindeutige Bauschäden eingeschätzt werden. Witterungserscheinungen sind oft keine Bauschäden, welche den allgemeinen Zerfall beschleunigen, sondern schlicht eine Reaktion auf die Umwelt und die Ereignisse, die sich in ihr abspielen. Um sie soll es in diesem Beitrag gehen.
Eine Eigenschaft zeitgemässer Bauwerke in der Schweiz besteht darin, dass sich das Witterungsverhalten der Umgebungsgestaltung – Gartenmauern, Aussentreppen, Garageneinfahrten etc. – von jenem der wärmegedeämmten Volumen markant unterscheidet. Pflegi-Areal Zürich von Gigon/Guyer, 1999-2002. Bild: Manuel Pestalozzi
Witterung in Theorie und Praxis
An den Hochschulen erfahren Lernende in der Regel vermutlich wenig über Folgen, Einflüsse oder die Beeinflussung von Witterungserscheinungen. Literatur zum Thema ist rar. So braucht es ein gerüttelt Mass an Glück, dass man über das Buch «On Weathering - The Life of Buildings in Time» von Mohsen Mostafavi und David Leatherbarrow stolpert. Die beiden an verschiedenen Universitäten der USA lehrenden Architekten haben ein längeres, ausgiebig bebildertes Essay publiziert, in dem sie den Witterungserscheinungen zu ihrem Recht als ernst zu nehmendes gestalterisches Element verhelfen.
Die beiden Autoren möchten mit ihrem Werk «die endlose Beeinträchtigung der Oberflächenbeschaffenheit durch die Bewitterung und die fortlaufende Metamorphose des Gebäudes als Ganzes als Teil seiner Genese(n) und seinem sich ewig verändernden Finish betrachten». Zentral ist die Frage, ob die Beeinträchtigung ein Makel ist. Gemäss Mostafavi und Leatherbarrow, hat sich ihre Beantwortung mit der Moderne und ihren neuen Planungspraktiken fundamental verändert.
Die Witterungsspuren am Hauptbau der Postzentrale Zürich-Mülligen von Theo Hotz, fertiggestellt 1985, scheinen willkürlich zu sein. Der Pavillon im Vordergrund trägt eine Patina, die er den nahen Alleebäumen verdankt. Bild: Manuel Pestalozzi
Manche Tradition will es, dass isolierte ländliche Bauten eine besonders exponierte Wetterseite haben. Die betreffende Fassade ist entsprechend gestaltet und oft mit einem besonders robusten Fassadenmaterial ausgestattet, in unseren Breiten beispielsweise kleinformatige Schindeln, die bei Bedarf auch kleinere örtliche Reparaturen zulassen. In der Regel waren es die Ausführenden, welche sich primär um die Wahl und die Umsetzung des angemessenen Witterungsschutzes kümmerten, nicht Architektinnen oder Architekten. Mostafavi und Leatherbarrow erwähnen Praxisbücher für Baumeister, welche die Prüfung der verwendeten Steine auf ihre Witterungstauglichkeit schon auf dem Steinbruch empfehlen. Die angemessene Lösung wurde also weniger vom Detailplan erwartet als vom ausführenden Baufachbetrieb.
Mit der Moderne änderte sich das gemäss den Autoren aus den USA. Nicht nur vermehrten sich serielle Bauteillösungen mit universaler Gültigkeit, es waren nun auch immer stärker die spezifischen Lösungen aus den Planungsbüros, welche für die Folgen der Witterung die Verantwortung übernahmen. Mit dem Aufkommen des International Style kamen plötzlich Gestaltungsmaximen zur Anwendung, welche sich nicht mehr auf spezifische klimatische Bedingungen bezogen. Ausserdem gab es in der Entwicklung der Moderne Momente, in denen die eigentlich unerreichbare Makellosigkeit des hygienisch einwandfreien Endprodukts zur höchsten Maxime erhoben wurde: Ein guter Bau hatte sauber zu sein, Spuren der Witterung mussten schnellst möglich entfernt werden.
Le Corbusier spielte in seiner puristischen Phase bei diesem Gebot der Makellosigkeit eine Hauptrolle. Mostafavi und Leatherbarrow erwähnen von ihm La Loi du Ripolin aus dem Jahr 1925. Ripolin ist eine Farbenmarke, und Le Corbusier empfahl in seinem Aufsatz, Wände mit reinem Weiss aufzufrischen, wobei der Effekt gleich auch in der Seele der Nutzerinnen und Nutzer Niederschlag finde. Das Bild der klinisch sauberen Architektur, die von Witterungsspuren frei gehalten werden muss, wurde auch mit der Architekturfotografie gefördert. Le Corbusiers Hinwendung zu Sonnenbrechern, welche meistens auch ein Witterungsschutz und eine bewitterte Oberfläche sind, sehen die erwähnten Autoren als eine Art Rückkehr des Architekten zur Tradition.
Die griechisch-orthodoxe Kirche Agios Dimitrios in Zürich von Marcel Ferrier ist aus dem Jahr 1995. Es zeigt sich hier deutlich, dass reine geometrische Körper wie dieser Kegelstumpf eine Wetterseite haben. Auch in diesem Fall scheinen benachbarte Bäume wesentlich für Witterungsspuren verantwortlich zu sein. Bild: Manuel Pestalozzi
Fragen der Würde
Betrachtet man den aktuellen Umgang mit Witterungsspuren in der Schweiz von heute, so entsteht der Eindruck, dass der von hygienischen Überlegungen getriebene Purismus von Le Corbusier breite Akzeptanz findet: Häuser müssen sauber sein, Witterungsspuren gelten als Beeinträchtigung und werden in vielen Fällen regelmässig entfernt. Da und dort werden selbst reinigende Gläser angepriesen, die Schweizerische Zentrale Fenster und Fassaden SZFF ist dazu übergegangen, die «kontrollierte Fassadenreinigung» mit Qualitätslabels zu werten und als dauernden Bestandteil der sich wiederholenden Vollendung der Gebäudeoberfläche zu empfehlen. Diese Mentalität stimmt überein mit der Feststellung von Mostafavi und Leatherbarrow, dass die Moderne nicht Witterungsverträglichkeit sondern Witterungsresistenz fordert.
Niemand wird etwas gegen stets propere Bauten einwenden. Schliesslich gibt es Oberflächen, welche porenlos und völlig schmutzabweisend sind, namentlich Glas oder Aluminium. Auf ihnen können witterungsbedingte Beschichtungen unappetitlich wirken. Gelegentlich wird der Reinlichkeits- und Gesundheitswahn aber etwas weit getreiben. So gibt es nun Spezialbeschichtungen gegen einen möglichen Algenbefall von Fassaden – obwohl dieser für sich allein der Oberfläche keinen Schaden zufügt. Diese «Naturfeindlichkeit» steht doch in einem bemerkenswerten Kontrast zum Trend, jede Fläche nach Möglichkeit zu begrünen und zu «renaturieren». Fördert es nicht die Würde einer Architektur, wenn man dem Geschehen seinen Lauf und die Architektur sich eigenständig bewähren und behaupten lässt? Für die narrative Qualität der betreffenden Bauten wäre etwas mehr laissez-faire auf jeden Fall ein Gewinn.
Planen mit der Witterung statt gegen sie; Peter Zumthors Kapelle Sogn Benedetg in Somvix aus dem Jahr 1988 zeigt, wie traditionelle Fassadenkonstruktionen sich mit individuellem Formwillen vereinen lassen. Bild: 2-bp.blogspot.ch
Aktiver Umgang mit der Witterung
Neben der puristischen Moderne gab es immer auch Architekturströmungen oder einzelne Büros, die sich aktiv mit den möglichen Folgen der Witterung auseinandersetzen. Wobei man sich eingestehen muss, dass die exakten Folgen in den seltensten Fällen auf Jahre oder Jahrzehnte hinaus abschätzbar sind. Nicht jedes Gebäude ist so souverän exponiert wie die freistehende Kapelle Sogn Benedetg von Peter Zumthor, bei dem das traditionelle Schindelkleid einen eigenwilligen Entwurf gleichzeitig schützt und mit seinem Witterungsverhalten bereichert. In Städten herrschen oft Mikroklimata; Neubauten, das Wachsen oder Entfernen von Bepflanzungen können die Witterungsspuren ganz wesentlich bestimmen, ohne dass ein Entwurf auf diese spezifischen Ereignisse abgestimmt werden kann.
Oft gibt es jedoch Möglichkeiten, Witterungseinflüsse zum Partner zu machen. Mostafavi und Leatherbarrow erwähnen das Werk von Carlo Scarpa und insbesondere der Sitz des Banco BPM in Verona. Das Regenwasser aus den Fensterbänken wird dort über Rinnen in die Fassade geleitet, was vorbestimmte Spuren hinterlässt. Auch Herzog & de Meuron haben sich schon dem Thema Witterung zugewandt: Beim Studio für Rémy Zaugg in Pfastatt bei Mulhouse aus dem Jahr 1995 kann das Regenwasser vom Dach direkt über die Sichtbetonfassade fliessen, wo es von der Witterung angelagerte Pionierpflanzen tränkt. Beim 2012 fertiggestellten Kräuterzentrum von Ricola in Laufen entwickelte das Büro zusammen mit Martin Rauch eine Stampflehmfassade. Sie ist darauf ausgelegt, sich durch die Bewitterung dynamisch zu verändern.
Zu den Witterungseffekten gehört auch das Ausbleichen. Unter Umständen ergibt sich ein «Blue-Jeans»-Effekt, mit ästhetischer Bedeutung. Bild: Manuel Pestalozzi
Ungenutztes Potenzial
Die genannten Beispiele rufen in Erinnerung, dass er Effekt der Witterung ein gestalterisches Potenzial birgt, das man ausschöpfen könnte. Mostafavi und Leatherbarrow weisen darauf hin, dass die witterungsbedingte Verdunkelung von Fassadenelementen den hell-/dunkel Rhythmus in Renaissance Fassaden akzentuieren, beispielsweise beim Palazzo Ducale in Venedig. Der Palazzo del Tè von Giulio Romano in Mantova, ein Hauptwerk des Manierismus, greift dem witterungsbedingten Zerfall durch die Beschaffenheit der behauenen Steinoberflächen vor. Die Bewitterung oder auch ihre Antizipation lässt sich für szenographische Effekte nutzen.
Die Fassaden in der Schweiz sind heute meistens schichtweise aufgebaut. Oberflächen, die der Witterung ausgesetzt sind, bestehen aus einer dünnen Schicht und müssen entsprechend robust sein, ein Witterungsbedingter «Abtrag» ,wie es bei Massivbauten möglich ist, kann man sich nicht leisten. Trotzdem bieten sich auch hier die Möglichkeiten, die Wirkung des Wetters durch kontrollierte Übergänge, Oberflächentexturen oder temporäres Bedecken – beispielsweise durch Beschattungselemente – bewusst in gestalterische relevante Bahnen zu lenken. Über Jahre lässt sich anschliessend beobachten, ob die Natur den ihr zugedachten Part so spielt, wie man es von ihr erwartet hatte. Wäre das nicht spannend?