Der Ruf der Wildnis

Susanna Koeberle
6. 9月 2018
Projekt in Ostaseidn von KAP-Architekten. Bild: ©Fredrik Flogstad/Statens vegvesen

Wer häufig mit dem Auto oder dem Bus auf Reisen ist, weiss: Es gibt nichts Trostloseres als Rastplätze. Daran kann auch ländliche Idylle wenig ändern. An idyllischer Natur fehlt es in Norwegen nicht – auch nicht an Rastplätzen entlang der Strassen durch die eindrückliche Landschaft. Gerade die lange Westküste mit ihren tausenden Fjorden bietet spektakuläre Naturschauspiele. Und die wollen auch gesehen und erlebt werden. Anders als die Schweiz ist das Land sehr dünn besiedelt, man kann also in Norwegen Natur in ihrer puren Form erkunden – wobei diese Idee immer auch ein menschengemachtes Konstrukt ist. Reinheit hin oder her: Norweger halten sich ausgesprochen gerne im Grünen auf, und auch Touristen bereisen das Land häufig, um die aussergewöhnlichen Landstriche zu besuchen. Aber eben, auch bei der Fahrt durch die Natur muss man mal. Idealerweise nutzt man den Halt bei einer Attraktion, um kurz auszutreten.

​Dass sogar der Besuch einer Toilette ein besonderes Erlebnis sein kann, zeigte unter anderem eine zweitägige Reise durch den Südwesten des Landes. Nicht nur die Sorge um das Wohlergehen der Besucher und Besucherinnen, auch der Schutz der Landschaft sowie wirtschaftliche Überlegungen bewogen die staatliche norwegische Strassenverwaltung 1994 dazu, ein Netz von norwegischen Landschaftsrouten ins Leben zu rufen. Nach einem Testprojekt erhielt die Strassenverwaltung 1998 vom Parlament grünes Licht zur Umsetzung des Projekts. Die 18 Landschaftsrouten werden seither schrittweise ausgebaut, 2023 sollen alle Einrichtungen fertig gestellt sein. Das Konzept umfasst verschiedene Massnahmen, darunter Rastplätze, Aussichtspunkte, Kunstwerke oder andere Einrichtungen und Initiativen, die entlang der Routen realisiert werden. Ein besonderer Fokus liegt auf der Erneuerung von Einrichtungen bei zehn landschaftlichen Attraktionen, die nicht nur für den Tourismus von Bedeutung sind, sondern auch für die norwegische Bevölkerung ikonischen Charakter besitzen. Davon sind bereits sechs fertig gestellt.

Treppe, die zum Wasserfall von Svandalfossen führt. Bild: ©Ken Schluchtmann

Hohe architektonische Qualität
Das Besondere an diesem Unterfangen ist die Tatsache, dass man das Thema Strasse und Tourismus aus architektonischer Sicht anging. Schon zu Beginn verstand man die Bedeutung qualitativ hochstehender architektonischer Eingriffe. 2002 beauftragte die staatliche norwegische Strassenverwaltung keinen geringeren als Peter Zumthor mit dem Entwurf einer Anlage in den stillgelegten Zinkgruben von Allmannajuvet. Diese Bauten wurden 2016 eröffnet, dazwischen schob sich ein weiteres Landschaftsroutenprojekt des Bündner Pritzker-Preisträgers, das 2011 eingeweiht wurde. Allerdings ist Zumthor der einzige nicht-norwegische Architekt, der Teil des Projekts ist. Dass man einen solchen «Star» wie ihn engagierte, ist sicher ein cleverer Zug, doch eines der deklarierten Ziele der Landschaftsrouten ist auch die Förderung junger norwegischer Büros. Zu diesem Zweck wurde 2007 ein Wettbewerb ausgeschrieben. Acht Architekturbüros wurden ausgewählt, um die Einrichtungen entlang der Routen zu entwerfen.

Zurück zum Start und zur ersten Station unseres zweitägigen Ausflugs. In Ostasteidn (das Teil der Ryfylke-Route ist) wird einem plötzlich bewusst, was für einen Unterschied es macht, wenn eine so banale Einrichtung wie eine Raststätte einladend gestaltet ist. Der Architekt Eivind Stornes Gjersten vom norwegischen Büro KAP führt uns durch die Anlage. Inspiration für das Projekt waren Bilder des norwegischen Malers Lars Hertevig, der aus der Gegend stammt. Kennzeichnend für seine der nordischen Naturromantik zuzuordnenden Bilder sind abgestorbene Baumstümpfe. Die Architekten übernahmen diese Form für das Servicegebäude aus grobem Beton. Dieser ist teilweise bewusst aufgeraut, um das Wachstum von Moos zu begünstigen. «Die Natur wird überhand nehmen», meint der Architekt nüchtern dazu. Noch ist die frisch eingeweihte Anlage etwas «nackt», aber die Idee überzeugt. Aus demselben naturnahen Gedanken heraus verwendete man für die Sitzbänke und Tische Glasfaserplatten aus recycelten Booten, auch die Wege sind mit Gitterosten aus einem Glasfaserwerkstoff ausgelegt. Dazwischen soll später lokale Flora wachsen, der Mutterboden wurde zu diesem Zweck an den Ort zurückgeführt. Die eigentliche Epiphanie ereignet sich beim Besuch des Innern der Toilette. Hier experimentierte das junge Büro mit einem wasserfesten und resistenten Geotextil und weissem Beton. Die Entwicklung dieses Verfahrens dauerte drei Jahre! Doch das Resultat ist schlicht umwerfend. Das textile, weich anmutende Innere steht im Kontrast zur den kantigen Formen des Äusseren. «Wir haben sehr viel gelernt bei diesem Projekt», fasst Stornes Gjersten zusammen.

Museum und Café von Peter Zumthor in Allmannajuvet. Bild: ©Ken Schluchtmann

Wasserfälle en masse
Nach einem kurzen Abstecher zum Wasserfall Svandalsfossen, zu dem rostfarbene Treppen (Architektur: Haga & Grov) führen, geht unsere Fahrt weiter zur nächsten Station, dem Projekt von Peter Zumthor in Allmannajuvet. Das Ensemble, das zu den stillgelegten Zinkminen führt und an die kurze Phase des Bergbaus erinnern soll, besteht aus drei schlichten, dunklen Bauten: einem kleinen Museum, das die Geschichte dieses Ortes mit Objekten und Dokumenten veranschaulicht, einem Café und einem Servicegebäude an der Strasse. Von der Strasse führt ein Weg hoch zum Café. Wie bei Zumthor üblich, hat er auch drinnen alles entworfen. Tische und Hocker wurden in einer Holzmanufaktur im Süden Norwegens gefertigt. Der Architekt soll sogar sein Wörtchen bei der Suppe mitgeredet haben, die im Café serviert wird. Zumthor hat sich für seinen Entwurf an der lokalen Bauweise orientiert. Auch er experimentierte für dieses Projekt mit Materialien. Das Sperrholz wurde mit Jute überzogen und anschliessend mit PMMA (einem wetterfesten Kunststoff) imprägniert. Diese Oberfläche verleiht der auf Stelzen stehenden Hüttenarchitektur eine rohe Patina. Die Legende will, dass ein japanischer Bewunderer des Meisters die Bauten noch vor der Fertigstellung sehen wollte. Er kam eigens aus Japan angereist, blieb eine Stunde, staunte und ging von dannen. Was auch wir taten, nicht aber bevor wir die Minen besuchten. Im kalten, feuchten Schacht kann man die Mühsal der Minenarbeiter gut nachvollziehen. Der Besuch des Geländes ist eine Zeitreise und bietet zugleich ein architektonisches Erlebnis. Die Rechnung scheint aufzugehen, denn die Besucherzahlen sind eindeutig zunehmend.

Der Wasserfall  Vøringfossen ist eine der wichtigsten und meist besuchten Touristenattraktionen Norwegens. Allerdings ist der Besuch dieses Naturschauspiels nicht ganz ungefährlich. Zudem war die Parkplatzsituation aufgrund der hohen Besucherzahlen ungünstig. Der Architekt Carl-Viggo Hølmebakk, dem wir schon vor unserer Tour in Oslo begegnen und der seit Beginn des Landschaftsrouten-Projekts dabei ist, hatte an diesem Ort mehrere Aufgaben zu lösen. Es ging um die Sicherung des Gebiets und um die Neugestaltung des Geländes sowie der Aussichtspunkte. Der neue Weg führt dabei ganz nahe an den Wasserfall heran und ermöglicht ein eindrückliches Naturerlebnis. Die Geländer nehmen das Motiv des fliessenden Wassers auf und vermitteln zugleich Sicherheit. Die erste Etappe wurde im Juli dieses Jahres beendet, bis 2020 soll zudem eine spektakuläre Brücke über der Schlucht erbaut werden. Die baulichen und landschaftsarchitektonischen Eingriffe verbinden Funktionalität mit Ästhetik ohne effekthascherisch zu sein. Die Show überlassen alle beteiligten Architekturbüros wohlweislich der Natur selber. Finanziert wird das zeitaufwendige Projekt grösstenteils vom Staat. Ein Beispiel, das Schule machen könnte.

Geländergestaltung von Carl-Viggo Hølmebakk in Vøringfossen. Bild: ©Silja Lena Loken/Statens vegvesen

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