Pinault Collection: Paris’ neuer Kunstort begeistert
Ulf Meyer
24. 6月 2021
In der Pariser Bourse de Commerce befindet sich neu das Privatmuseum von François Pinault. Der Bau stammt aus dem Jahr 1767 und wurde bereits mehrfach umgestaltet. (Foto: Marc Domage © Tadao Ando Architect & Associates, Niney et Marca Architectes, Agence Pierre-Antoine Gatier)
Mit seinem Umbau beweist Tadao Ando, dass seine Architektur nichts von ihrer Kraft eingebüsst hat. Die minimalistische Gestaltung des Pritzker-Preisträgers glänzt im Dialog mit dem historischen Bestand.
Als der Grossmarkt von Paris 1970 nach Rungis umgesiedelt wurde, verschwand ein ganzes Quartier: Nachdem die Markthallen von Victor Baltard (1805–1874) abgerissen worden waren, klaffte eine gähnende Lücke. Einer der lautesten und lebendigsten Orte der Stadt war verschwunden. Neben einigen Wohn- und Geschäftshäusern blieben nur die Kirche Saint-Eustache und der Rundbau der einstigen Kornhalle als Überreste des Hallenviertels erhalten. Letzteres Gebäude war im Jahr 1767 unter Louis XV in Betrieb genommen worden und wurde im 19. Jahrhundert zweimal umgebaut. Die Bourse de Commerce wurde anschliessend von der Handelskammer genutzt. Allmählich zog in das Viertel zwar neues Leben ein, doch Touristen verirrten sich kaum je dorthin. Das aber dürfte sich nun nachhaltig ändern. Denn pünktlich zum Ende der strengen Massnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus wartet der Stadtteil mit einem grossartigen Kunstraum auf.
Der Kontrast zwischen den nackten Betonwänden und den historischen Putzoberflächen ist sehr stark. Er macht den Reiz von Tadao Andos Eingriff wesentlich mit aus. (Foto: Maxime Tétard, Studio Les Graphiquants © Tadao Ando Architect & Associates, Niney et Marca Architectes, Agence Pierre-Antoine Gatier)
Die Bourse de Commerce wurde dafür nicht nur instandgesetzt und Zwischendecken und Trennwänden aus ihr entfernt, nein, die massive Investition des Unternehmers und Kunstsammler François Pinault hat sie zu einem atemberaubenden Ort der Kunst werden lassen. Tadao Ando hat Alt und Neu überzeugend verbunden und den geschichtsträchtigen Bau in eine «Vitrine» für Pinaults Kunstsammlung verwandelt. Im Rahmen der Eröffnungsausstellung mit dem Titel «Ouverture» ist eine «kleine» Auswahl von 200 Werken von 30 bedeutenden Künstler*innen aus aller Welt zu sehen. Urs Fischer aus der Schweiz hat zum Beispiel den Kuppelraum mit schmelzenden Wachsplastiken bestückt, unter denen sich eine Replik von Giambolognas «Raub der Sabinerinnen» befindet. Das grösste Kunstwerk im Gebäude aber ist und bleibt das 1889 installierte Panoramagemälde unter dem filigranen Glasdach, das an ein Fresko erinnert und dem Kuppelsaal seine besondere Atmosphäre verleiht.
Durch insgesamt vier Tore gelangt man ins Innere der Trommel. Diese misst 29 Meter im Durchmesser. (Foto: Patrick Tourneboeuf © Tadao Ando Architect & Associates, Niney et Marca Architectes, Agence Pierre-Antoine Gatier)
Pinault wollte sein Zentrum für Kunst ursprünglich auf der Île Seguin einrichten, jener Seine-Insel, auf der sich einst die Renault-Werke befanden. Doch dazu kam es nie. Stattdessen baute er mit seinem Lieblingsarchitekten aus Japan am Canal Grande in Venedig zuerst den Palazzo Grassi und später die Punta della Dogana zu Kunsträumen um. Auf Initiative der Stadt Paris wurde Pinault daraufhin ein verlockendes Angebot unterbreitet: Durch die Umgestaltung der ehemaligen Handelsbörse könne er, so wurde ihm versprochen, seinem Alter Ego Bernard Arnault und dessen Fondation Louis Vuitton am Bois de Boulogne einen Kunstort im Zentrum der Stadt gegenüberstellen.
Foto: Patrick Tourneboeuf © Tadao Ando Architect & Associates, Niney et Marca Architectes, Agence Pierre-Antoine Gatier
Foto: Patrick Tourneboeuf © Tadao Ando Architect & Associates, Niney et Marca Architectes, Agence Pierre-Antoine Gatier
Entführung aus dem AlltagDoch genug der Vorgeschichte, wenden wir uns der Architektur des Umbaus zu: Durch eine Wegführung über Rampen, Emporen und Treppen gelangen die Kunstbegeisterten zu den Sälen mit viel Tageslicht, die Ein- und Ausblicke in das Gebäude und hinaus auf Saint-Eustache, den Jardin Nelson Mandela, die Canopée und das Centre Pompidou bieten. Tadao Andos Sichtbeton-Architektur im Tatami-Mass erlaubt dabei die völlige Konzentration auf die Kunst. Und obschon seine schwere, monolithische Architektur mittlerweile in die Jahre gekommen sein mag und manchen Kritikern vielleicht nicht mehr zeitgemäss erscheint, fühlt sie sich dennoch frisch an.
Der Pritzker-Preisträger aus Osaka konnte in seiner langen Karriere auf der ganzen Welt Gebäude realisieren, doch es waren immer wieder vor allem seine Projekte in Europa, im Zuge derer er sich intensiv mit der Architekturgeschichte auseinandersetzte – zum ersten Mal in den 1990er-Jahren bei der Arbeit an der «Fabrica» für die Familie Benetton in Treviso. Bald darauf begann Ando, wie eingangs schon angedeutet, mit François Pinault in Venedig zusammenzuarbeiten. Dabei zeigte er bereits eine selbstbewusste Haltung gegenüber der historischen Bausubstanz.
In Paris nun spiegelt Andos Intervention den kreisförmigen Fussabdruck der Börse wider: Ein mit vier Öffnungen versehener Betonzylinder wurde in das Gebäude eingesetzt. Er misst 29 Meter im Durchmesser. Die Glaskuppel darüber steuert das Licht und badet die Besucher*innen darin. Sie mache jene so, erklärt Ando, zu «Akteuren in einer Szenografie, die sie aus ihrem Alltag entführen soll». Nicolas Le Camus de Mézières (1721–1793), der Architekt des Bestandsgebäudes, schrieb in seinem Aufsatz «Das Genie der Architektur», dass es nicht ausreiche, wenn Architektur die Augen erfreue, vielmehr müsse sie die Seele berühren. Passend dazu versuchte Ando, die ehemalige Börse in einen «emotionalen Raum» für überraschende Begegnungen zwischen Vergangenheit und moderner Kunst zu verwandeln. Klare geometrische Formen verleihen seinem Entwurf dabei seine besondere Kraft.
Im Untergeschoss befindet sich unter anderem ein Auditorium für die Kunstvermittlung. (Foto: Patrick Tourneboeuf © Tadao Ando Architect & Associates, Niney et Marca Architectes, Agence Pierre-Antoine Gatier)
Eine Doppelspirale in der Rotunde mit Rampen erzeugt eine ständige Besucherbewegung, die den Raum belebt. Die kahlen Sichtbetonwände weisen – ganz und gar typisch für die Architektur des Japaners – überaus präzise Details auf, haben scharfe Ecken und glatte Oberflächen. Das Projekt ähnelt in besonderem Masse Andos Benesse Art Museum auf der japanischen Kunstinsel Naoshima, denn auch im Pariser Museum werden die Besucher*innen in einer zentrifugalen Bewegung zu den Galerieräumen geführt. Ein Steg, der sich entlang der Innenfassade um den Zylinder windet, bietet sowohl auf dem Weg nach oben in die Trommel als auch nach unten zum neu eingerichteten Auditorium immer wieder neue Aussichtspunkte. Den hellen Obergeschossen steht das dunkle Untergeschoss gegenüber, in dem sich Räume für die Kunstvermittlung befinden. Im ersten Obergeschoss wurden die Ausstellungsräume eingefügt. Sie leben auch vom starken Kontrast zwischen dem nackten Sichtbeton und den historischen Putzoberflächen. Im dritten Stock schliesslich endet der Besuch mit einem herrlichen Blick über die französische Kapitale in einem Gourmetrestaurant.
Während die Obergeschosse hell sind, hat Tadao Ando die Räume im Untergeschoss bewusst dunkel gestaltet. (Foto: Patrick Tourneboeuf © Tadao Ando Architect & Associates, Niney et Marca Architectes, Agence Pierre-Antoine Gatier)
Japanischer Minimalismus profitiert von historischem GlanzTadao Ando ist nach wie vor Japans erfolgreichster zeitgenössischer Architekt. In Paris zeigen sich noch einmal viele wesentliche Charakteristika seiner Architektur in einem Projekt. Denn zu Beginn seiner Karriere setzte Ando sich mit Le Corbusiers «béton-brut» und Louis Kahns starken Geometrien auseinander. Ausserdem spielten leere Räume, auf Japanisch «Yohaku» genannt, als Gestaltungselemente schon immer eine grosse Rolle für ihn. Seine Gebäude haben darum zuweilen eine zen-artige Atmosphäre. Und schliesslich schafft er durch eine kraftvolle Dualität von hell und dunkel, offen und geschlossen, Masse und Raum immer wieder beeindruckende Dramaturgien. Für die Collection Pinault hat er zudem Räume und Wege miteinander verwoben. Seine besondere Sensibilität für das Rohe zeigt sich ein weiteres Mal anhand der feinen Sichtbetonoberflächen, die mit Präzision und Raffinesse vor Ort gegossen wurden. Sie sind so glatt, dass sie ihre Umgebung reflektieren. Erst das Spiel von Licht und Schatten auf ihnen belebt die minimalistischen Räume und schafft Orte der Kontemplation und des Kunstgenusses. Andos oft introvertierte Architektur muss nicht anti-urban oder ahistorisch sein, wie die Bourse de Commerce in Paris beweist. Die minimalistische Architektur aus Japan beginnt erst im Dialog mit einem historischen Gebäude zu glänzen.