Holen wir uns die Strasse zurück
Elias Baumgarten
17. 9月 2024
Foto: Elias Baumgarten
Wie können Strassenräume gestaltet werden, damit sie eine hohe Aufenthaltsqualität bieten und zu einem besseren Stadtklima beitragen? Davon handelt die neueste Publikation des Instituts Urban Landscape der ZHAW.
Schwups, weg sind oft meine Gedanken, wenn ich das Wohnzimmerfenster öffne. Ich höre sie dann nicht mehr. Da sind nur noch aufheulende Motoren, genervtes Hupen, wummernde Autoradios. Dazwischen heiseres Gekeife – jemand ist am Lichtsignal zu langsam losgefahren. Riechen tut es auch nicht besonders fein: In meiner Nase sticht der Geruch malträtierter Kupplungen, heisser Bremsen und von Dieselabgasen. Ich wohne an einer der grössten Einfallstrassen Winterthurs – in zweiter Reihe eigentlich, doch das nutzt nicht viel. Im neuen Buch «Städtebau beginnt an der Strasse» lese ich: «Die Gestaltung der Strassenräume soll wieder im Dienste der Bewohner:innen und Passanten:innen stehen.» Bravo! Mir jedenfalls spricht das aus der Seele. Regula Iseli, Peter Jenni und Andreas Jud fordern einen Wandel zu mehr Fuss- und Radverkehr in Kombination mit einem gut ausgebauten öffentlichen Verkehrsnetz. Dazu nötig sei eine «Umgestaltung und Neuaufteilung der Strassenräume und eine stärkere Vernetzung mit den unterschiedlichen Aktivitäten innerhalb des Quartiers». Doch wie kann das gelingen? Schliesslich erfreut sich das Auto in der Schweiz nach wie vor grösster Beliebtheit: 80 Prozent der Haushalte besitzen laut Statistischem Bundesamt eines, jeder dritte sogar zwei oder mehr. Zu Fuss gehen die Menschen dagegen ungern: Nur etwa 5 Prozent der Tagesdistanz läuft der Durchschnitt. Noch unbeliebter sind Velos und E-Bikes: Mit ihnen werden täglich nur 0.9 Kilometer zurückgelegt. Experten wie ETH-Professor Kay W. Axhausen meinen, das liege auch daran, dass Menschen sich auf dem Fahrrad durch Autos gefährdet fühlen.
Foto: Elias Baumgarten
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Den Schlüssel zu einer positiven Veränderung sehen Regula Iseli, Peter Jenni und Andreas Jud in einer neuen Planungskultur und veränderten Qualitätskriterien für Strassenräume. Ihr Buch beginnen die drei Forschenden des Instituts Urban Landscape der ZHAW mit einer sehr gelungenen, kurzweiligen historischen Einführung, in der sie auf die Entwicklung im Kanton Zürich fokussieren. Schon ab den 1930er-Jahren, erfährt man in diesem Kapitel, wurden Fussgänger von den Zürcher Strassen auf das Trottoir verbannt, um den Autos freie Fahrt zu garantieren – obwohl sich dazumal kaum jemand ein Auto leisten konnte und nur jede 67. Person eines besass. Umgekehrt forderten Einzelpersonen wie der Architekt und Raumplaner Hans Marti schon Anfang der 50er-Jahre eine Abkehr von der autogerechten Stadt.
Foto: Elias Baumgarten
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Zum Hauptteil des Buchs gehört die vergleichende Analyse zwölf ausgewählter Strassenräume – von der geschäftigen Zürcher Langstrasse über die baumbestandene Wülflingerstrasse in Winterthur bis zu den Dorfstrassen von Fällanden und Balerna. Mit Fotos und Plänen dargestellt, werden diese Ortsdurchfahrten, die täglich jeweils über 10'000 Fahrzeugen passieren, auf ihre Nutzung und Bebauung sowie ihre sozialen und ökologischen Vorzüge und Probleme hin untersucht. Ich realisiere: Gute Strassenräume zu planen, ist eine verzwickte Aufgabe. Bebauungsstrukturen, die für den Lärmschutz und eine hohe Dichte vorteilhaft sind, können zum Beispiel ökologisch und hinsichtlich des Stadtklimas ein Nachteil sein. Interessant ist auch, dass es von altgewachsenen Anlagen wie der Gutstrasse in Zürich mit ihren Vorgärten, Hecken und Bäumen einiges zu lernen gibt.
Foto: Elias Baumgarten
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Schliesslich diskutieren Regula Iseli, Peter Jenni und Andreas Jud neue Qualitätskriterien für Strassenräume und skizzieren neue Planungsstrategien. Im Kern muss künftig interdisziplinärer gearbeitet werden. Hoch- und Tiefbauämter müssen sich abstimmen, statt weiter nebeneinanderher zu wursteln. Wichtig ist auch, die Bevölkerung einzubinden und das Expertenwissen der Betroffenen abzuholen. Denn bei der Gestaltung von Strassenräumen gilt es viele unterschiedliche, bisweilen auch widersprüchliche Interessen in Einklang zu bringen. Das ist überzeugend. Nur: Lassen sich all die klugen Vorschläge praktisch implementieren und sind die Forderungen auch politisch durchsetzbar? In Winterthur wenigstens tut sich tatsächlich etwas: Die Stadtautobahn wird zwar ausgebaut, aber in den Untergrund verlegt, sodass die Lebensqualität der Menschen im Stadtteil Töss steigt. Und vor wenigen Wochen hat die Bevölkerung die Gegenvorschläge zur Stadtklima-Initiative angenommen. Damit ist der Weg frei für die Entsiegelung von immerhin 80'000 Quadratmeter Strassenfläche bis 2040.