Ein weit gereister Schirm
Susanna Koeberle
8. 12月 2022
Das «Umbrella House» von Kazuo Shinohara steht seit Sommer 2022 auf dem Vitra Campus. (Foto: Julien Lanoo © Vitra)
Das «Umbrella House», ein kleines Wohnhaus von Kazuo Shinohara, war in Japan vom Abbruch bedroht. Dank einer Rettungsaktion steht es nun auf dem Vitra Campus. Ob es das eigenwillige Werk des japanischen Architekten einem breiten Publikum näherbringen kann, muss sich erst zeigen.
Das «Umbrella House», 1961 für eine Familie in Tokio entworfen, zähle zum «Ersten Stil» von Kazuo Shinohara (1925–2006), erfahren wir zur Einführung. Dieser Fakt bedarf der Erklärung. Schon zu Lebzeiten definierte der japanische Baukünstler, der zunächst Mathematik studiert hatte, vier Stile – eine bemerkenswerte Form, sein eigenes Werk methodologisch zu reflektieren. Diese scheinbar starre Einteilung in unterschiedliche Phasen wird ablesbar an der Diversität seiner Bauten, zugleich zeichnet sich Shinoharas Arbeit durch eine konstante Auseinandersetzung mit den Traditionen seines Heimatlandes aus. Dieses Ringen mit dem Erbe steht gerade beim Ersten Stil im Vordergrund. Wie fremd Europäer*innen die japanische Kultur in vielerlei Hinsicht ist, zeigt sich unter anderem beim Versuch, das Gesamtwerk dieses Architekten gebührend einzuordnen. Das macht beides – Kultur und Werk – für uns nicht weniger interessant, im Gegenteil.
Dennoch wird dabei auch deutlich, wie schnell der Blick aus der Fremde dazu neigt, lokale Eigenheiten – und das gilt auch für die Architektur – in ein bestimmtes Bild zu zwängen. Das «Umbrella House» bedient auf den ersten Blick das Klischee-Bild japanischer Architektur. Wobei hier traditionelle Architektur gemeint ist. Doch das Schirmhaus hebt sich zugleich davon ab, es ist vielmehr ein Beispiel für den Dialog zwischen Tradition und Moderne. Es lohnt sich also, genauer hinzuschauen und die Wahrnehmung für kleinere Verschiebungen zu schärfen. Das machte die kundige Einführung durch die beiden Schweizer Shinohara-Kenner*innen Christian Dehli und Andrea Grolimund anlässlich einer Pressebesichtigung möglich. Auch die Publikation zum Haus liefert wertvolle und grafisch wunderbar aufbereitete Informationen zur Geschichte dieses Bauwerks, seiner Rettung inklusive.
Das auf einer quadratischen Grundfläche basierende Holzhaus bot Platz für eine Familie. (Foto: Julien Lanoo © Vitra)
Shinohara gilt als führender Architekt der japanischen Nachkriegszeit, sein Einfluss auf die nachfolgende Generation ist gross; hierzulande hingegen ist sein Werk nur in Fachkreisen bekannt. Eine Publikation der Zeitschrift werk, bauen + wohnen aus dem Jahr 2015 fächerte die thematische Fülle seines Schaffens auf und weckte damals mein Interesse für die Arbeit dieses Architekten. Der Umzug des «Umbrella House» von Tokio nach Weil am Rhein bietet Gelegenheit, eines seiner ikonischen Bauwerke näher kennenzulernen. Dass auch Häuser migrieren können, zeigte schon der japanische Pavillon an der Architekturbiennale von Venedig 2021. Dort bekam man ein in Einzelteile zerlegtes japanisches Haus zu sehen und zwar ein stinknormales Tokioter Wohnhaus. Beim Schirmhaus ist der Fall anders gelagert, handelt es sich doch um das «Meisterwerk» eines Architekten, wie verschiedentlich betont wurde.
Das «Umbrella House» von oben gesehen (Foto: Julien Lanoo © Vitra)
Das «Umbrella House» ist das kleinste noch erhaltene Wohnhaus aus der ersten Schaffensperiode von Kazuo Shinohara. Äussere Merkmale sind die quadratische Grundfläche von 55 Quadratmetern sowie das pyramidenförmige Dach. Auf dem Vitra Campus gesellt es sich zu anderen Architekturikonen; mittlerweile gleicht dieses Gelände einem mittelgrossen Architekturzoo. Wobei gewisse Gehege nicht betretbar sind, der Möbelhersteller pflegt eine gewisse «Abschirmungskultur». Wer weiss, auf welche Geheimnisse man im Innern der Fabrikationshallen treffen könnte. Besucher*innen, die zum Shoppen oder zwecks Weiterbildung in Sachen Design nach Weil am Rhein anreisen, kommen dennoch in den Genuss einiger Bauten bekannter Architekt*innen. Das Haus von Shinohara ist neben dem geodätischen Dom von Buckminster Fuller und T.C. Howard (1975) und einer Tankstelle von Jean Prouvé (1953) das dritte Gebäude historischen Ursprungs auf dem Vitra-Areal. Leicht erhöht und von etwas angegriffenen Büschen umgeben deutet seine simple äussere Erscheinung zunächst nicht auf etwas Aufregendes hin. Vielmehr wirkt das Bauwerk trotz der pflanzlichen Einrahmung etwas verloren. Aber man soll sich vom Schein nicht trügen lassen, diese Maxime habe auch ich verinnerlicht.
Im Innern zeigt sich der namengebende Schirm. (Foto: Julien Lanoo © Vitra)
Die besondere Dachform ist in Japan für Wohnhäuser unüblich, sie ist sonst nur bei Tempelbauten zu finden. Japanische Architekt*innen würden darin eine offensichtliche Referenz zur Halle des Jodo-ji-Tempels aus dem 12. Jahrhundert in der Stadt Ono sehen, erklärt Ryue Nishizawa in seinem Buch-Beitrag. Ebenso seien Bezüge zu traditioneller vernakulärer Architektur vorhanden. Dennoch handle es sich eindeutig um ein zeitgenössisches Bauwerk, so der Mitgründer des japanischen Büros SANAA. Nishizawa gehört zu den Bewunderern Shinoharas. Die Modernität des Hauses sowie die unterschiedlichen Sprachen, die es vereint, erschliessen sich Laien nicht auf Anhieb. Dafür muss man eben die räumlichen und kulturellen Codes besser kennen sowie den Kontext dieses Baus innerhalb des damals herrschenden Architekturdiskurses der Nachkriegszeit verstehen.
Was gleich beim Betreten des Hauses ins Auge sticht, ist das namengebende, schirmartige Dach, dessen «Schienen» (schirmtechnisch gesprochen) offen gezeigt werden und an einen traditionellen japanischen Schirm erinnern. Die Auffächerung des Raumes in der Vertikale in Kombination mit der strengen geometrischen Gliederung des Grundrisses schafft ein besonderes Raumgefühl, das in Kontrast zur Einfachheit der äusseren Gestalt steht. Man kommt hier dem räumlichen Experiment Shinoharas etwas näher. Dass es ihm nämlich genau darum ging, Geschichte und Moderne in ein Zwiegespräch treten zu lassen, leuchtet erst im Innenraum richtig ein. Während man also in einem ersten Schritt das archetypische Bild eines japanischen Hauses sucht, erfahren die gewohnten Seh-Antennen hier eine erste leichte Erschütterung. Gut so.
Ein historisches Foto, aufgenommen um 1963/1964 (Foto: Akio Kawasumi)
Das leicht erhöhte Tatami-Zimmer ist mit einer flachen Decke versehen und diente als Schlafraum für die ganze Familie – wie früher und teilweise bis heute in Japan üblich. In diesem Zimmer, das durch Schiebetüren vom Wohnraum abgetrennt werden kann, dominieren traditionelle japanische Elemente wie etwa Seidentapeten, die im Zuge der Rekonstruktion durch neue ersetzt wurden. Das Büro Dehli Grolimund versuchte, das Haus möglichst in seinen Originalzustand zurückzuführen, denn es war im Laufe der Jahre durch die Besitzerfamilie mehrfach umgebaut und erweitert worden. Für den Umzug wurde die Holzkonstruktion aus japanischer Zeder, japanischer Kiefer und Douglasie auseinandergenommen, und die einzelnen Teile wurden sorgfältig inventarisiert. Dann wurde das Grundgerüst zusammen mit weiteren Bestandteilen des Hauses verpackt und nach Weil am Rhein verfrachtet. Die von Shinohara und vom Designer Katsuhiko Shiraishi entworfenen Möbel mussten aufgrund von Fotos nachgebaut werden. Einzelne Bereiche wie das Bad wurden neu gestaltet. Auch eine kleine neue Teeküche soll seiner aktuellen Nutzung zugutekommen.
Diese ist (noch) nicht genau definiert. Die unterschiedlichen Neuerungen machen allerdings nur dann Sinn, wenn der Raum in irgendeiner Weise genutzt wird, sonst hätte man es auch bei einer musealen Rekonstruktion bewenden lassen können, die der reinen Anschauung gedient hätte. Dieses Haus mag, wie Shinohara selbst sein Verständnis von Architektur formulierte, ein Kunstwerk sein, es war dennoch eines, das zum Brauchen entworfen wurde. Die Professionalität des Wiederaufbaus und die Sorgfalt der Nachbildung historischer Elemente sind bemerkens- und lobenswert. Um diese aufwendige Rettung – die übrigens im Buch sehr schön dokumentiert ist – zu komplettieren, braucht es aber eine Vision für das Weitergeben seiner Geschichte. Shinoharas Bemühungen, mit diesem Haus die Vergangenheit in die Zukunft zu überführen, müssen an seinem neuen Standort eine entsprechende Erzählform finden. Sonst verkommt dieses Meisterwerk zum exotischen Puppenhaus.
Auch die Lichtverhältnisse im Innenraum sind genau durchdacht. (Foto: Julien Lanoo © Vitra)
Kazuo Shinohara. The Umbrella House
Christian Dehli und Andrea Grolimund
180 x 250 Millimeter
120 ページ
80 Illustrations
Hardcover
ISBN 9783945852552
Vitra Design Museum
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