Ein Buch über das Leben

Elias Baumgarten
14. 11月 2024
Foto: Elias Baumgarten

Dieses Buch nährt. Oft nicke ich zustimmend beim Lesen, dann wieder bin ich bewegt, fühle mit. Ich empfinde Sympathie und ja, auch Bewunderung. Unterstützt von ihrer Freundin, der Autorin Dominique Gauzin-Müller, erzählt Anna Heringer in «Form Follows Love» ihre Lebensgeschichte – von den Pfadfinderlagern ihrer Jugend, über ihr Soziales Jahr in Bangladesch, das ihre Weltsicht prägen sollte, und ihre Studienzeit bis hin zu ihrer Mutterschaft. Dabei spart die Architektin aus Bayern nichts aus, keinen Selbstzweifel, keine mentale Krise, auch nicht das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, oder die schmerzvolle Erfahrung, dass manche sie eine schlechte Mutter nennen. Diese Offenheit verlangt Mut. Und in ihr zeigt sich Stärke: Anna Heringer erscheint als zähe Kämpferin für ihre Ideale, die lieber anpackt, als Zeit mit Jammern zu verschwenden. «Ich habe mich nie klein oder ohnmächtig gefühlt», sagt sie von sich. «Mein ganzes Leben lang war und bin ich felsenfest davon überzeugt, dass ich die Welt verändern kann.»

Die METI-Schule in Rudrapur entwarf Anna Heringer als ihre Diplomarbeit. Der Bau markiert einen entscheidenden Wendepunkt in ihrem Leben: Nach einer schlimmen Sinnkrise entdeckte sie bei Martin Rauch den Lehmbau für sich, änderte das Thema ihres Diploms und gewann schliesslich für das Projekt den renommierten Aga-Khan-Preis. (Foto: Elias Baumgarten)

Anna Heringer zeigt in ihrem Buch nicht nur ihre Bauten und Textilien; sie vermittelt vor allem ihre Lebenseinstellung und Überzeugungen. «Form Follows Love» ist im Kern eine Kapitalismus- und Konsumkritik und die Aufforderung, vom globalen Süden zu lernen. Zum Beispiel sollten wir statt auf Haltbarkeit lieber auf Erneuerbarkeit setzen: 2008 erhielt Anna Heringer die Nachricht, dass die Bambuskonstruktion ihrer METI-Schule von Käfern befallen und nicht zu retten sei. Mit den schlimmsten Befürchtungen flog sie nach Bangladesch – um festzustellen, dass der Vorfall für die Arbeiter keine grosse Sache war. Sie ersetzten das schadhafte Dach und freuten sich über die unverhoffte Möglichkeit, Geld für ihre Familien zu verdienen. «Vor dieser Erfahrung dachte ich, Haltbarkeit sei das Wichtigste», erinnert sich Anna Heringer. «Heute denke ich, es ist wichtiger, so zu bauen, dass kein Abfall zurückbleibt, sondern nur Wissen und Fähigkeiten.» Wie die Menschen in Bangladesch Verletzlichkeit zu akzeptieren, schreibt sie, würde uns helfen, umweltfreundlicher zu bauen: «Ein Hauptproblem für die Nachhaltigkeit ist unsere Angst vor Verfall und Tod. Denn aus dieser Angst heraus pumpen wir unsere Gebäude mit viel mehr Zement, Stabilisatoren, Klebstoff und Chemikalien voll als nötig. Es wäre sinnvoll und wichtig, abbaubare Gebäude zu entwerfen und für jedes Bauwerk einen ‹Verfallsplan› zu haben.» 

Neben der Angst vor Vergänglichkeit hindere uns auch unsere mangelnde Bereitschaft zu persönlichen Einschränkungen und unsere Scheu vor Verantwortung am nachhaltigen Bauen, meint Anna Heringer. Ein weiteres Problem sei der in unserer Kultur verankerte Perfektionismus: «In tropischen Klimazonen zu bauen, war eine gute Lektion für mich. Dort bleibt nichts lange perfekt, und das hat auch etwas Befreiendes. […] Wenn das Konzept wirklich Sinn ergibt und die Architektur gut ist, können wir ein paar Unvollkommenheiten im Detail tolerieren.»

Wirtschaftspolitisch ist Anna Heringers wichtigste Forderung die nach Kostenwahrheit für Baumaterialien. «Es ist einfach nicht akzeptabel, dass eine Wand aus CO2-neutraler Erde, die von Handwerkern aus der Region gebaut wird, mehr kostet als eine Wand aus Stahlbeton», schreibt sie. «Wir müssen Materialien und Prozesse, die auf nicht erneuerbaren Ressourcen beruhen und CO2 erzeugen, stark besteuern, während es für menschliche Energie – die Arbeitskraft, die wir in Gebäude stecken – Steuererleichterungen und Subventionen geben sollte. Unsere kreativste und wichtigste Energiequelle, der Mensch, muss wieder bezahlbar werden.» 

Mit Dipdii Textiles kehrt die Architektin verschwenderisch-ausbeuterische Wirtschaftspraktiken um: Gewöhnlich wird modische Kleidung zum Beispiel in Bangladesch billig und unter üblen Bedingungen für die Fast-Fashion-Industrie produziert, um kaum getragen in Ländern wie Ghana entsorgt zu werden. Bei Dipdii Textiles hingegen fertigen die Arbeiterinnen aus gebrauchten Stoffen Decken und Kleidungsstücke, die in Europa aufgrund ihrer kunstvollen Handwerklichkeit gern und lange verwendet werden.

Für das DESI-Center gab es keine Grundrisse, Schnitte oder Konstruktionspläne. Der Lehmbau wurde im Bauprozess von Anna Heringer mit den Arbeiterinnen und Arbeitern gestaltet. Auch das Bauen als sozialen Akt zu begreifen, der Menschen zusammenschweisst, können wir vom globalen Süden lernen. (Foto: Elias Baumgarten)

Das Buch zeigt nicht nur wunderbare Architektur. Es verändert den Blick auf die Länder des globalen Südens und kehrt die überhebliche und im Grunde kolonialistische Vorstellung um, man müsse den Menschen dort mit unserem Wissen und unserer vermeintlich überlegenen Technologie helfen: Sie werden unsere Lehrer. Wollen wir nachhaltig und zufriedener leben, haben wir von ihnen zu lernen. Die wichtigste Lektion hat Anna Heringer dabei früh verinnerlicht, nämlich «die Schönheit in den gewöhnlichen Dingen zu sehen und die einzigartigen Talente jedes Einzelnen zu nutzen, um das Beste aus dem zu machen, was vor Ort vorhanden ist.» Mir persönlich hat daneben Mut gemacht zu lesen, wie viele Krisen und innere Kämpfe sie durchstehen musste und dass sich ihre Zähigkeit immer wieder ausgezahlt hat. Nicht nur habe ich viel gelernt und nachgedacht, ich fühle mich nach der Lektüre auch aufgestellter.

In Hittisau im Bregenzerwald gestaltete Anna Heringer gemeinsam mit Anka Dür, Martin Rauch und Sabrina Summer einen Gebärraum. Ihr ist es wichtig, Frauen zu unterstützen und zu ermächtigen: Sie fördert junge Architektinnen in ihrem Studio, holt in Bangladesch Frauen auf die Baustelle und gibt ihnen bei Dipdii Textiles Arbeit, mit der sie ihre Familien ernähren können. (Foto: Elias Baumgarten)

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