Stefanie Kerlein fragt sich, wie der Städtebau der Zukunft aussieht
Leonhard Fromm
10. giugno 2021
Stefanie Kerlein, eine Geographin, Architektin und ausgewiesene Umweltexpertin, leitet den Bereich Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft innerhalb des Teams der Internationalen Bauausstellung. (Foto: IBA’27, Sven Weber)
Die Internationale Bauausstellung (IBA) findet 2027 in der Region Stuttgart statt. Seit drei Jahren schon bereitet eine eigene Geschäftsstelle die Schau vor und identifiziert zukunftsweisende Projekte, die Teil der IBA werden sollen.
«Wir haben kein Wissensdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit», sagt Stefanie Kerlein. Die Geographin ist Teil des 21-köpfigen Teams der Internationalen Bauausstellung (IBA) und verantwortet den Bereich Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft. Die IBA verstehe sich als Schnittstelle und moderiere Planungsansätze zwischen Kommunen, Investoren und Architekt*innen, erklärt sie. Auch würde sie sich bemühen, Themen wie Teilhabe oder Kreislaufwirtschaft zu integrieren. Dafür ist die 36-Jährige bestens vorbereitet. Sie hat ihr Diplom in Geographie an der Uni Tübingen erworben und einen Masterstudiengang in Architektur und Umwelt an der Hochschule Wismar abgeschlossen; seit 2011 hat sie ausserdem in verschiedenen Firmen im Bereich Stadtentwicklung und Wohnungsbau Berufserfahrung gesammelt. 2019 stiess sie schliesslich zum IBA-Team.
Bei diesem sind bereits 140 Projektvorschläge aus den 179 Kommunen der Region Stuttgart eingegangen, die auf Fördergelder, den Werbeeffekt der IBA und das internationale Know-how hoffen, das sie durch das IBA-Team und dessen Kuratorium erhalten können. Mittlerweile sind 75 Projekte in der Sichtung und 14 konkret identifiziert und bewilligt, in die Stefanie Kerlein ihre Expertise einbringt. Das geschätzte Investitionsvolumen allein dieser 14 bisherigen IBA-Projekte liegt bei drei Milliarden Euro. Sie umfassen 8500 Wohneinheiten und 9000 Arbeitsplätze. Dabei ist das Prozedere immer dasselbe: «Wir analysieren im ersten Schritt die Areale, gleichen deren Entwicklungsmöglichkeiten mit dem Baurecht ab, betrachten die aktuelle und die gewünschte Nutzung und stellen den Bedarf vor Ort fest.» In herkömmlichen städtebaulichen Wettbewerben würden sämtliche Gutachten etwa zu Verkehr, Klima oder Boden parallel vergeben, bei der IBA hingegen arbeite man integral, um etwa die Zahl der Beteiligten zu reduzieren, reziproke Effekte zu erzielen und die Reaktionszeiten zu verkürzen.
Die alte Industrieanlage der Neckarspinnerei in Wendlingen-Oberboihingen; sie ist eines der wichtigsten IBA-Projekte, an denen Stefanie Kerlein arbeitet. (Foto: HOS-Gruppe)
«Durch den integralen Ansatz halten wir die Komplexität in allen Bereichen handhabbar, ohne wichtige Aspekte zu vergessen oder zu wenig zu würdigen», erläutert Stefanie Kerlein. Als Beispiel nennt sie die Erfordernisse des sogenannten Green Deals, den die EU im Jahr 2019 verabschiedet hat, um Mobilität und Städtebau in der Zukunft CO2-neutral zu gestalten. Für Kerlein heisst das, den CO2-Verbrauch von Gebäuden zu erfassen – und zwar nicht nur hinsichtlich deren Betrieb, sondern auch bezüglich der Materialien im Bestand, Stichwort graue Energie, oder im Falle von Neubauten. Des Weiteren geht es um die regionale Herkunft von Baustoffen, um das Verkürzen von Transportwegen oder auch die Demontierbarkeit und Rezyklierbarkeit im Falle eines Rückbaus. Heimisches Holz, das CO2 bindet und nachwächst, oder Beton aus aufbereitetem Bauschutt, der natürliche Ressourcen schont und hilft, lange Transportwege zu vermeiden, seien hier nur beispielhaft genannt. Um Sortenreinheit und damit Recyclingfähigkeit geht es längst auch in der Baustoffzulieferindustrie – von Beschlägen über Farben und Lacke bis hin zu Tapeten und Teppichen.
«Wir wollen mit solchen Nachhaltigkeitsthemen das Bewusstsein lokal schärfen und zum Umdenken sowie Handeln auffordern», sagt die Umweltexpertin, die ihrerseits in einem internationalen Netzwerk im Austausch steht. Entsprechend möchte sie gemeinsam mit ihren Kolleg*innen unter anderem zeigen, wie beispielhafte Konzepte zur Kreislaufwirtschaft im Bausektor in der Region Stuttgart aussehen. Eine Idee ist die dreidimensionale Visualisierung von Gebäuden an IBA’27-Projektorten auf einer digitalen Plattform sowie die Erfassung der an ihnen verbauten Materialien in einer digitalen Datenbank. Damit könnte aufgezeigt werden, an welcher Stelle in welchem Umfang Material im Bestand abgebrochen und möglichst anderenorts für Neubauten verwendet wird.
Kerlein und ihre Kolleg*innen arbeiten aktuell an der alten Neckarspinnerei in Wendlingen-Oberboihingen im Kreis Esslingen, südöstlich von Stuttgart. Die Sanierung soll mit recyclingfähigen Baumaterialien aus der Region erfolgen. Zusammen mit der Stadt Wendlingen und der Bevölkerung sollen Kreative, Gestalter*innen, Planer*innen und Ökonomen hier ein lebendiges und zukunftsfähiges Quartier entwickeln. Dabei geht es beispielsweise um eine mutige horizontale und vertikale Nutzungsmischung aus Wohnen, Freizeiteinrichtungen, Gewerbeflächen sowie industrieller und landwirtschaftlicher Produktion. Entstehen soll ein dichter und lebendiger Stadtbaustein, der an die frühere Nutzung als Produktionsstandort anknüpft. Stefanie Kerlein sagt dazu: «Das Beispiel zeigt, wie hoch der Kommunikationsbedarf ist, damit nicht nur die Baubeteiligten mitziehen, sondern auch Besitzer und Mieter, zumal ja die Nutzer ihr Geschäft möglichst klimaneutral betreiben sollen.» Es geht also um die sorgfältige Auswahl von Mieter*innen und Bewohner*innen, umweltfreundliche Mobilitätsangebote, die Sensibilisierung der Öffentlichkeit und idealerweise um eine nachhaltige Finanzierung, etwa durch Genossenschaften.
Foto: IBA’27, Tobias Schiller
Ausserdem setzt sich Kerlein für den Erhalt der regionalen Baukultur und die Langlebigkeit von Gebäuden ein. Als Beispiele nennt sie die alte Klinik am Eichert in Göppingen und die Hochschule Esslingen, die in den 1970er- und 1980er-Jahren «im Stil des Brutalismus» errichtet wurden und nun Neubauten weichen sollen. Aus ökologischer Sicht stelle sich die Frage, ob und wie solche Gebäude neu genutzt werden könnten. In dieser Mission sind die Macher*innen der Bauausstellung auch auf Instagram aktiv. So wollen sie gerade auch jüngere Menschen gewinnen und ermutigen, ihre Ideen einzubringen.
Da die IBA keine Immobilien besitzt und auch nicht über ein grosses Budget verfügt, setzt sie an drei Punkten an: Politiker*innen und Bürger*innen sollen gewonnen und zum Beispiel bei der Beantragung von Fördergeldern unterstützt werden. Zweitens sollen einheimische Unternehmen angesprochen werden, die als Investoren, Nutzer oder Produzenten wichtige Beiträge leisten können. Und schliesslich soll über das internationale Netzwerk der IBA ein intensiver Wissenstransfer und kultureller Austausch erfolgen. Als Beispiel für diesen Dreiklang verweist Kerlein auf das Mittelzentrum Backnang. Die Stadt hat der IBA ein Projekt eingereicht, das fünf private Eigentümer betrifft. Sie stellt nur die Infrastruktur und das Planungsrecht zur Verfügung. Der Gemeinderat stimmte zu, eine «Vision 2050» für das Stadtquartier zu entwickeln. Auch die Eigentümer zogen mit. Das Vorhaben wurde weltweit ausgeschrieben, und 114 Bewerbungen von Architekturbüros gingen ein, die sich am Städtebauwettbewerb beteiligen wollen; darunter Teams aus Kambodscha, Kolumbien und ganz Europa.
Für die grosse internationale Resonanz auf die Ausschreibung war vermutlich ausschlaggebend, dass das Projekt als Teil der IBA entwickelt werden soll. Im komplexen Zusammenspiel zwischen Baurecht, Baugeschichte und den vielen Beteiligten versteht sich die IBA als inspirierende und moderierende Kraft. Hier bringt sie ihr Know-how in Sachen resilienter und zukunftsfähiger Gestaltung und Vernetzung aller Beteiligten und Betroffenen ein. Stefanie Kerlein resümiert dazu: «Unsere grosse Vision sind Transparenz und Transformation der Prozesse.»
Das Quartier Backnang-West wird im Zuge der IBA fit für die Zukunft gemacht. Weltweit unterbreiteten Architekt*innen Vorschläge für die Umgestaltung. (Foto: IBA’27, Tobias Schiller)
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Gesellschafter der IBA 2027 sind Stuttgart, die Hauptstadt des deutschen Landes Baden-Württemberg, der Verband Region Stuttgart und die Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH, die Architektenkammer Baden-Württemberg sowie die Universität Stuttgart. Die Architektenkammer vertritt weitere Kammern und Verbände – zum Beispiel den Bund Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA) und die Ingenieurkammer Baden-Württemberg. Und die Universität Stuttgart vertritt weitere Hochschulen aus der Region.