Hilft viel wirklich viel?

Ulf Meyer
10. novembre 2021
Foto: Virgile Simon Bertrand, Herzog & de Meuron
Mit einem Befreiungsschlag aus der Krise?

Hongkong wirbt damit, die «Weltstadt Asiens» zu sein. In Tokio und Singapur mag man diesen Claim für lächerlich halten, aber bisher hat Hongkong seine Rolle als «Tor nach China» gut gespielt. Seit der ökonomischen Öffnung Chinas und der Unterdrückung der Regenschirm-Bewegung vor Ort ist die Stadt jedoch in eine schwere Krise geraten: Shenzhen, ihr «Doppelgänger» auf der anderen Seite der innerchinesischen Grenze, hat Hongkong ökonomisch bereits den Rang abgelaufen, und internationale Investoren fragen sich zunehmend, was die hohen Preise in Hongkong gegenüber anderen Metropolen in China noch rechtfertigt. In der Krise soll Hongkong eine Neudefinition als Kunst- und Kulturstadt helfen. Obschon die Metropole traditionell als wichtige Hafen- und Handelsstadt sowie als beliebte Shopping-Destination verstanden wurde, war sie als Ort der Kunst und der Kultur im internationalen Vergleich bisher ein Zwerg. Das soll sich nun auf einen Schlag ändern – mit der Eröffnung des gigantischen Kunstzentrums M+, das von Herzog & de Meuron entworfen wurde. Das Team gewann 2013 den Wettbewerb um die Gestaltung des Prestigeprojekts. Ausgeführt wurde der Entwurf schliesslich zusammen mit Terry Farrell und Arup aus Grossbritannien, der ehemaligen Kolonialmacht Hongkongs. 

Foto: Kevin Mak, Herzog & de Meuron
Foto: Virgile Simon Bertrand, Herzog & de Meuron
Gross und grell

Das M+ ist eines der ersten Gebäude im neuen West Kowloon Cultural District, dessen Baugrund der Hongkonger Meerenge durch Aufschüttungen abgerungen wurde. Es sei das erste «globale Zentrum für zeitgenössische visuelle Kultur in Asien, das sich der Sammlung, Ausstellung und Interpretation von bildender Kunst, Design, Architektur und Bewegtbild widmet», so die nur bedingt bescheidene Selbsteinschätzung der Initiatoren. Ein Schwerpunkt des Hauses liegt auf der visuellen Kultur Hongkongs selbst. 

Um in der beeindruckenden Skyline der Stadt aufzufallen, muss ein Gebäude gross und abends grell illuminiert sein. Die Basler Museums-Profis haben deshalb ihrem «Visual Culture Museum» zur Waterfront am Victoria Harbour ein monumentales Profil gegeben und die Fassade als riesigen LED-Bildschirm gestaltet. Mit 65000 Quadratmeter Fläche (17000 davon auf 33 Galerien verteilte Ausstellungsflächen) trumpft der Neubau auf – rein quantitativ. Welche räumlichen Qualitäten er bietet, muss sich erweisen. 

Foto: Virgile Simon Bertrand, Herzog & de Meuron

Der breite Sockel kontrastiert mit einem schlanken Turm darüber. In diesem Scheibenhochhaus gibt es Arbeits- und Bildungsräume. Turm und Podium haben Betonfassaden, die mit Keramikfliesen verkleidet sind. Diese reflektieren das Licht und verleihen dem Gebäude ein immer wieder unterschiedliches Aussehen – je nach nachdem, welche Wetterbedingungen gerade herrschen.

Die schmale Scheibe ist vom Sockel abgehoben, die umgekehrte T-Form wirkt wie eine 1950er-Jahre Typologie. Sie nimmt Ateliers, eine Lounge für Mäzene und Restaurants mit Panoramablick in den obersten Etagen auf. Die horizontalen Lamellen der Fassade dienen als Brise-Soleil-Elemente. Trotz der für ein Museum beachtlich grossen Anzahl von nicht weniger als 18 Stockwerken wirkt das M+ zwergenhaft neben dem benachbarten ICC-Tower von Kohn Pedersen Fox, dem mit 484 Metern und 108 Etagen höchsten Haus der Stadt.

Foto: Kevin Mak, Herzog & de Meuron
Vielseitiger Möglichkeitsraum

Das M+ soll kein traditionelles Museum, sondern ein Kunstzentrum sein. Es soll das ganze Spektrum an Räumen und Möglichkeiten für die Präsentation von Kunst und Kultur abdecken. Neben klassischen White Cubes gibt es Vorführräume, «third spaces» und einen «industriellen Raum». 

Weil das aufgeschüttete Neuland wenig Spezifisches bot, orientierten sich die Architekten an dem unmittelbar benachbarten Bahntunnel: Für Pierre de Meuron ist er die Raison d’être für die «rohen, rauen Ausstellungsräume» unter Tage. Die Aussenwände des Tunnels wurden sichtbar gemacht und mit einer L-förmigen Black Box kombiniert, die die Architekten begeistert wahlweise als versunkenes Forum und Ausstellungs-Topographie bezeichnen. Das horizontale Gebäude darüber bietet konventionellere Räume in einem orthogonalen Raster mit einer «Plaza» im Zentrum für Sonderausstellungen. In jeder der vier Ecken dieses Zentralraums beginnt eine Reihe von Galerien. Den Auftakt bildet jeweils ein Raum mit besonderen Qualitäten: eine Oberlichtgalerie, ein Hof mit Zugang zur Dachterrasse, ein Raum mit Glasfassade zum benachbarten Park und ein Auditorium, das zum Victoria Harbour orientiert ist. Die sparsam gesetzten Öffnungen in den Fassaden rahmen Blicke auf den Artist Square und die Skyline von Hongkong. 

Und die Erfolgsaussichten?

Aber kann man allein mit dem Bau eines riesigen Kunstzentrums eine Stadt zum Ort der Kunst und der Kultur machen? Das Motto «build it and they will come» oder auch die Idee «viel hilft viel» können mitunter durchaus zielführend sein – aber eben auch ins Desaster führen und weisse Elefanten hervorbringen. Die Zukunft des M+ ist einstweilen offen. Sie hängt – wie die der ganzen Stadt – vor allem von der Politik in Peking ab.

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