Empfehlungen für den sozialen Zusammenhalt in Wohnhochhäusern
Manuel Pestalozzi
1. febbraio 2023
Wie werden Wohnhochhäuser sozial und ökologisch, aber auch wirtschaftlich nachhaltig? Das wurde an der Hochschule Luzern untersucht. Eine Publikation zu dem Forschungsprojekt ist online frei verfügbar. (Illustration: © Hochschule Luzern)
Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchsen vielerorts Wohntürme gen Himmel. Doch dann gerieten sie in Verruf. Nun haben sie erneut Konjunktur. Wie können solche Bauten also nachhaltig gestaltet werden? Dieser Frage widmeten sich Forschende der Hochschule Luzern.
Die Studie «Soziale Nachhaltigkeit im Wohnhochhaus» entstand an der Hochschule Luzern (HSLU) im Rahmen des Interdisziplinären Themenclusters (ITC) «Raum und Gesellschaft» zwischen 2018 und 2022. Das Forscherteam bestand aus Expert*innen der Institute für Soziokulturelle Entwicklung (ISE, Soziale Arbeit) und Finanzdienstleistungen (IFZ, Wirtschaft) sowie des Kompetenzzentrums Typologie & Planung in Architektur (CCTP, Technik & Architektur).
Die Projektleitung lag beim ISE, für Nähe zur Architektur sorgte die Beteiligung des CCTP. Letzteres brachte architektonisches Fachwissen rund um die Typologie des Wohnhochhauses ein. 2006 gegründet, erforscht das CCTP die Interaktion zwischen Mensch und gebauter Umwelt. Mithilfe eines ganzheitlichen Verständnisses sollen an dem Institut «resiliente Konzepte für den gebauten Lebensraum der postanthropozänen Zukunft» erarbeitet werden. Die zahlreichen Projekte des CCTP decken ein breites Spektrum ab – von der Arbeit «Baukultur konkret – Zwicky Süd, Dübendorf» bis zu «Food in the City – ThinkTank Szenarien für die Stadt von morgen».
Doch zurück zur Studie. Ausgangspunkt war das bis anhin weitgehend fehlende Fachwissen über die sozialen Aspekte des Bautyps Hochhaus. Zahlreiche in der internationalen Literatur diskutierte sozialräumliche Herausforderungen seien in zeitgenössischen Schweizer Bauten ungelöst, so die Forschenden; Kommunikation und Nachbarschaftsbeziehungen etwa, die Auswirkungen von baulicher Höhe auf die Interaktion der Bewohner*innen, die Situation von Familien mit Kindern oder die Verknüpfung der Bauten mit dem städtischen Raum. Im Rahmen des Forschungs- und Entwicklungsprojekts wurden verschiedene Aspekte sozialer Nachhaltigkeit im Wohnhochhaus untersucht. Sie betrafen das Umfeld, die Gebäude selbst, das Zusammenleben, die Organisation und die Wirtschaftlichkeit.
Nun wurde ein Projektbericht mit Planungs- und Handlungsempfehlungen veröffentlicht, der auf der Website der HSLU verfügbar ist. Die Verfasser*innen hoffen, dass durch die Publikation der mögliche gesellschaftliche Mehrwert der Typologie im Diskurs zukünftig stärker beachtet wird.
Acht Themenfelder werden im Projektbericht behandelt. Die Publikation umfasst auch Handlungsempfehlungen. (Illustration: © Hochschule Luzern)
Wohnhochhäuser als soziale, ökologische und ökonomische AufgabeDie Planungs- und Handlungsempfehlungen richten sich nicht primär an Architektur- und Planungsbüros, sondern an Institutionen und Gruppen, die ein Interesse an Wohnhochhäusern haben. Partner des Projektteams waren eine Baugenossenschaft, eine Pensionskasse, eine Stiftung und ein Generalunternehmer, dazu ein Raumentwicklungsbüro und eine Stadtentwicklungsabteilung. Obwohl sie nicht mit einbezogen wurden, enthält die Publikation jedoch Überlegungen, die auch für Entwurfsteams relevant sein können – nur schon, weil es wichtig ist zu wissen, wie potenzielle Bauherrschaften an eine solch grosse Aufgabe herangehen.
Das Ziel des sozial nachhaltigen Wohnhochhauses wird als die Fähigkeit des Bauwerks definiert, einen gesellschaftlichen und baukulturellen Mehrwert für das (städtische) Umfeld zu erbringen. Explizit erwähnt wird dabei auch die wirtschaftliche Tragbarkeit. Für jedes der besagten acht Themenfelder sind eigene Ziele ausgegeben. Bei Typologie, Morphologie und Bautechnik heisst es etwa, das Wohnhochhaus sei unter Einbezug der Betrachtung von Lebensdauer und Lebenszyklus hinsichtlich seiner Gebäudestruktur so zu planen, dass in der Erstnutzung sowie später in möglichen Um-, Nach- oder Zwischennutzungen durch räumliche und technische Bedingungen ein möglichst hohes Mass an Komfort und Atmosphäre geschaffen wird. Daraus werden Grundsätze für die Gestaltung abgeleitet.
Die Empfehlungen gehen über die Planung hinaus und betreffen auch den Unterhalt der Gebäude. So wird etwa geraten, Prozesse wie Gentrifizierung oder Segregation der Bevölkerung im Quartier im Auge zu behalten. Das ist bemerkenswert, weil bisher international viele grossmassstäbliche Wohnbauten just hieran gescheitert sind.
Bei der Erläuterung der ökonomischen Implikationen der empfohlenen Massnahmen kristallisiert sich heraus, weshalb überhaupt Wohnhochhäuser gebaut werden – nämlich wegen den steigenden Bodenpreisen und dem Bestreben, eine höhere Dichte zu erreichen. Dabei werden Argumente präsentiert, nicht aber Beispielrechnungen. Die HSLU betont auf Anfrage jedoch, dass Berechnungen vorgenommen wurden. Bei näherem Interesse solle Professor Dr. Christian Kraft (christian.kraft@hslu.ch) kontaktiert werden kann.
Auch wie Wohnhochhäuser am besten gebaut werden sollen, wird in der Veröffentlichung angedeutet: Modular, mit hohem Vorfertigungsgrad und so, dass das spätere Trennen der Bauteile im Sinne der Kreislaufwirtschaft leicht möglich ist.
Doch insgesamt bleiben die Planungs- und Handlungsempfehlungen leider sehr allgemein. Trotz der ansprechenden und übersichtlichen grafischen Gestaltung handelt es sich um ein sehr wortreiches Werk. Es ist der Kompaktheit geschuldet, dass es keine Auskunft gibt über die Forschung und die Forschungsmethoden, die hinter dem Projekt stehen. Aber es sei darauf hingewiesen, dass sich auch der etwas längere Schlussbericht der Studie herunterladen lässt. Er konkretisiert Ausgangslage und Hintergrund, nimmt eine theoretische Einordnung der Thematik vor und enthält eine Literaturliste. Hinweise auf konkrete Wohnhochhaus-Beispiele respektive lehrreiche Negativbeispiele, die doch auch Teil der gebauten Landschaft sind, fehlen leider auch hier. Sie hätten sich als eine wertvolle Stütze erwiesen.
Das von Jaeger Koechlin Architekten für die Eisenbahner-Baugenossenschaft Bern geplante Wohnhochhaus sieht Gemeinschaftsräume und stockwerkübergreifende Waschküchen als Orte des sozialen Austauschs vor. (Visualisierungen: © Jaeger Koechlin Architekten)
Zuweilen werden die Empfehlungen bei neuen Projekten schon beherzigtDas Thema Wohnhochhaus erhält in der öffentlichen Debatte derzeit viel Aufmerksamkeit. Das Studium von zwei jüngeren Architekturwettbewerben für Wohntürme zeigt, dass die im Werk gesammelten Empfehlungen bereits teilweise berücksichtigt werden. Die Swiss Life AG erstellte an der Baslerstrasse in Zürich eine Wohnanlage, in deren Turm sich 84 Mietwohnungen befinden. Ursprünglich waren noch Eigentumswohnungen geplant, Mietwohnungen sollten sich nur im Sockelbau befinden. Das Projekt des Architekturbüros Galli Rudolf wurde im Rahmen eines Studienauftrags erarbeitet. Die Beurteilungskriterien stimmen dabei zumindest teilweise mit den Empfehlungen aus der Publikation überein. Soziale Aspekte allerdings, etwa das Schaffen von Begegnungszonen, spielten bei der Auswahl soweit bekannt keine Rolle.
Ganz anders beim Wettbewerb für das Wohnhochhaus auf dem Baufeld O1 im neuen Quartier Holliger im Westen der Stadt Bern. Dort suchte die Bauherrschaft, die Eisenbahner-Baugenossenschaft Bern (EBG), ausdrücklich nach einem sozialen und ökologischen Leuchtturmprojekt. In einem Workshop hatte die EBG ihre Mitglieder gebeten, eigene Ideen und Visionen einzubringen. Eine Auswahl der Rückmeldungen fand Eingang in die Wettbewerbsunterlagen. Besondere Aufmerksamkeit erwartete die Baugenossenschaft von den Entwurfsteams bei der «sozial und ökologisch sinnvollen Ausgestaltung der Vertikalen» des Bauwerks. Das Siegerprojekt von Jaeger Koechlin Architekten nahm unter anderem die Anregung der Genossenschaft auf, die gemeinsamen Waschküchen als Begegnungsorte aufzuwerten. Sie sind als zweigeschossige Räume konzipiert, die eingesehen werden können. Damit findet bei diesem Projekt tatsächlich, wie von der EBG gewünscht, räumlich eine sozial sinnvolle Ausgestaltung der Vertikalen des Hochhauses statt. Die Anordnung ermuntert dazu, Etappen des grosszügigen, mit Tageslicht versorgten Treppenhauses nicht nur als Erschliessungsraum zu nutzen.
Noch fehlen allerdings Erfahrungsberichte zu den sozialen Aspekten des Zusammenlebens in solch modernen Wohntürmen. So ist es verdienstvoll, dass die HSLU die Planungs- und Handlungsempfehlungen gesammelt und geordnet in kompakter Form zur Verfügung stellt. Wohnen in Hochhäusern ist in der Schweiz noch immer ein ungewohntes und aufregendes Erlebnis, das Wohlbefinden der Bewohnenden wird massgebend sein für den weiteren Erfolg dieser Typologie in unserem Land.