Das Museum als Schule des Sehens

Susanna Koeberle
23. giugno 2021
Yael Davids, «A Reading That Loves, A Physical Act», 2017, Migros Museum für Gegenwartskunst, (Foto: Giuseppe Micciché, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin)

An Zoom-Sitzungen bei der Arbeit haben wir uns mittlerweile gewöhnt und sogar Pilates-Lektionen funktionieren über dieses Medium. Wenn es sein muss. Bei kulturellen Veranstaltungen wird es schwieriger, denn sobald man geistig oder körperlich abdriftet, kann man es genauso gut bleiben lassen, lautet meine Erkenntnis nach über einem Jahr «üben». Über Aufmerksamkeit weiss die Künstlerin Yael Davids Bescheid. Wenn sie also ihren Zoom-Vortrag, bei dem sie ihre aktuelle Ausstellung im Migros Museum für Gegenwartskunst erläutert, mit einer Körperübung beginnt und die beteiligten Zuschauer*innen dazu noch auffordert, doch bitte die Kamera einzuschalten, dann weiss sie genau, warum sie das tut. Ihre Kunst (und das zeigt sich auch in «One Is Always a Plural» ganz deutlich) handelt nämlich in erster Linie von der Beziehung zwischen Kunstwerk, Künstlerin und den Betrachtenden. Draussen bleiben geht hier nicht. Sehen funktioniert zwar auch auf Distanz, aber Davids interessiert sich für die Frage, wie wir sehen. Schauen wir in tote Bildschirme und sehen wir «nur» uns selber (oder gar die leere Hülle unseres «Selbst») oder lassen wir es zu, dass sehen zu einem aktiven Vorgang wird, der unseren ganzen Körper involviert? 

Yael Davids ist eine Künstlerin, welche die Idee des Kunstwerks und seiner Vermittlung sowie überhaupt das Konzept des Museums an die Grenze treibt. Das ist an sich nichts Neues, doch ihr Ansatz ist weder kämpferisch noch hat er Manifestcharakter. Vielmehr schafft er Raum für eine Erfahrung, bei der sie sich leise, aber direkt an uns richtet und uns dadurch an ihrer Kunst teilhaben lässt. Sie begnügt sich nicht damit, Kunstwerke zu schaffen, sondern untersucht den Herstellungsprozess und die Rezeption von Kunst als solcher. Sie ist damit zugleich auch Forscherin. Ihr Forschungsmedium ist interessanterweise eine körperliche Methode. Die Künstlerin praktiziert seit vielen Jahren Feldenkrais. Was das ist? Ich zitiere hier aus der  Medienmitteilung: «Moshe Feldenkrais (1904, Ukraine–1984, Israel), ein Wissenschaftler und begeisterter Judoka, entwickelte in den späten 1940er-Jahren eine Methode, die auf der Erkenntnis gründet, dass der Mensch sein Leben lang fähig ist, zu lernen und sich zu verändern. Er hat damit vorweggenommen, was die Wissenschaft der Neurophysiologie heute als ‹neuronale Plastizität des Gehirns› bezeichnet. Es handelt sich bei Feldenkrais also um eine körperorientierte, therapeutische und pädagogische Praxis, in der spezifische Bewegungssequenzen achtsam ausgeführt werden, um die eigenen Bewegungs- und Verhaltensgewohnheiten besser zu verstehen und ihre Veränderbarkeit zu erkennen. So können Alternativen für Gewohntes oder Festgefahrenes gefunden und verinnerlicht werden. Das Ziel besteht nicht darin, eine bestimmte ‹Form› der Bewegung zu perfektionieren, sondern es geht vielmehr darum, mit den Möglichkeiten unseres eigenen Körpers zu arbeiten und unsere alltäglichen Bewegungen – wie stehen, sitzen, sich beugen, greifen – zu verbessern». 

Yael Davids, «Vanishing Point», 2020, Migros Museum für Gegenwartskunst (Foto: Giuseppe Micciché, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin)

Was hat das mit Kunst zu tun? Oder wie übersetzt sich eine solche Praxis in eine Ausstellung? Zunächst deutet nichts darauf hin, dass sich «One Is Always a Plural» von einer ganz normalen «White Cube»-Schau in einem Museum unterscheidet. Bald erkennen wir aber, dass da hier etwas anders läuft. Schon nur die Tatsache, dass ein Raum als «Schule» dient, in dem während der Dauer der Ausstellung Feldenkrais-Lektionen stattfinden, ist ungewöhnlich. Nicht nur ihre eigenen Arbeiten fordern unsere Sehgewohnheiten heraus, auch die Auswahl anderer Werke aus der Sammlung des Migros Museums sowie verschiedene Leihgaben lassen erahnen, dass es Davids um Austausch geht. Ihre eigenen künstlerischen Arbeiten übernehmen dabei eine verbindende Funktion. Dies tun sie, indem sie den Gang durch das Museum und den Blick auf die Exponate ganz physisch lenken. Raumgliedernde Stoffbahnen bewirken eine besondere Bewegungsform durch die räumliche Struktur der Ausstellung, die fast etwas Choreographisches hat. Die Platzierung der Textilien sowie die Art ihrer Durchlässigkeit erzeugen eine ganz eigene Raumwahrnehmung, die sich auch auf die Betrachtungsweise der ausgestellten Arbeiten auswirkt. Davids hat zu jeder der ausgesuchten Arbeiten (bei dieser Tätigkeit waren auch die Mitarbeiter*innen des Museum beteiligt) eine Feldenkrais Übungssequenz erarbeitet, denen wir in der Ausstellung als Charts begegnen. Sie zu «lesen» ist dabei eine eher ungewohnte Form der Kunstbetrachtung. Als körperliche Erfahrung sind wohl die Lektionen, die im Museum kostenlos angeboten werden, weiterführender (eine solche zu besuchen, steht mir noch bevor). 

Yael Davids’ Arbeit «Leaning glass and black pigmented clay with Ferdinand Hodler» (2021) bezeichnet schon im Titel den Dialog mit Ferdinand Hodlers «Der Gärtner» (1896) aus der Sammlung des Migros Museum für Gegenwartskunst. (Foto: Giuseppe Micciché, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin)

Wer glaubt, das sei alles esoterischer Humbug, kann sich den Arbeiten auch auf einer rein intellektuellen Ebene annähern. Dafür bietet die Künstlerin Stoff genug. Ihre Arbeit ist durchaus auch politisch. Etwa, wenn wir erfahren, dass die Glasplatten, die sie verwendet, aus einer Fabrik in ihrem Geburtsort, dem Kibbutz Tzuba westlich von Jerusalem stammen. Das Hauptgeschäft der Fabrik Oran Safety Glass ist ein vorwiegend für Kriegszwecke bestimmtes, kugelsicheres Spezialglas. Auf diese Weise wird ein scheinbar harmloses Material plötzlich mit Bedeutung aufgeladen. Diese erschöpft sich aber nie in einer Fingerzeigegeste, sondern lässt Ambivalenz und Komplexität zu. Das ist keineswegs selbstverständlich.

Die Tragweite unserer verkümmerten Sichtweise auf die Welt wird gerade in einem Video besonders deutlich, in dem Moshe Feldenkrais von einem Erlebnis im Zug erzählt. Er habe beobachtet, wie ein junger Jemenite, der ihm gegenüber sass, ein Buch las. Dabei fiel ihm auf, dass er das Buch verkehrt herum hielt. Dennoch sah es so aus, als ob der Mann lesen würde. Nach einer Weile fragte er diesen, ob er denn überhaupt lesen könne. Dieser war ob der Frage vollkommen erstaunt und las ihm aus dem Buch vor – und zwar, indem er den Text mal in die eine, mal in die andere Richtung hielt. Er habe in seinem Dorf in einem Kreis sitzend lesen gelernt, weil nur der Lehrer ein Buch gehabt habe, erklärte er dazu. So hätten sich die Kinder angewöhnt, Buchstaben aus verschiedenen Richtungen zu entziffern. Feldenkrais stellt am Schluss des kurzen Videos ganz lapidar fest: «Da merkte ich, dass ich wohl der Idiot war». Perspektivenwechsel tun uns allen gut.

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