Brexit – nach dem Donnerschlag
Manuel Pestalozzi
28. giugno 2016
Der passende Ausgang gehört zur Architektur. Bild: wallpoper.com
Architektur bedeutet Stabilität. Entsprechend gross ist der Schock unter den Architektinnen und Architekten Grossbritanniens nach dem Votum für den EU-Austritt. Doch gerade der Ausgang ist eine vorrangige architektonische Aufgabe.
Die dem Vereinigten Königreich von seinem Stimmvolk auferlegte Pflicht, die Mitgliedschaft in der Europäischen Union (EU) aufzukünden und das Verhältnis zu dieser Organisation von aussen neu zu ordnen, ist alles andere als erbaulich. Der Brexit ist ein Weg, der ohne Architektinnen und Architekten geplant wurde. Liest man die allgemeinen Stellungnahmen, so kommt man zum Schluss, dass er überhaupt nicht geplant wurde, sondern als eine Art Naturereignis über den Kontinent hereingebrochen ist. Der Berufsstand der Architekten ist – wie viele andere – schockiert. Die Kollegen von German-Architects haben sich umgehört und berichten von «Frust und Ärger über Brexit-Votum». Demnach haben die Grossen der Zunft wie Chipperfield, Rogers oder Koolhaas vor dem 23. Juni in den Chor der Warnrufe eingestimmt. Die vereinten Mahnfinger der Stararchitekten konnten nichts ausrichten.
Was steht für die Architektinnen und Architekten des Inselreichs auf dem Spiel? Wir wissen es heute nicht. Architektur-Onlineportale versuchen primär die wirtschaftlichen Folgen abzuschätzen, www.bdonline.co.uk spricht aktuell von einem «Jojo der Architekten-Aktien». Natürlich fördert die momentane Unsicherheit den Fortschritt von Bauprojekten nicht unbedingt. Zu grenzenloser Verzweiflung besteht aber kein Grund. Einerseits zeichnen sich Architektinnen und Architekten, die sich im Markt behaupten, nicht zuletzt durch Geduld, Zähigkeit und Beharrlichkeit aus. Sie können auf veränderte Rahmenbedingungen reagieren. Ausserdem sollte auch der allen Regeln der Baukunst entsprechende Ausgang zu ihren Fachkompetenzen gehören. Sie werden nolens volens an einem verträglichen Brexit mitarbeiten müssen, der klar festlegt, was denn nun innen, was aussen ist.
Der Architekturberuf und die Bauwirtschaft allgemein sind seit langem global orientiert, der Brexit wird das nicht ändern. Gute Projekte und effiziente Umsetzungen sind grenzübergreifend begehrt, der «Heimatschutz» für lokale Büros und Unternehmen hält sich im Rahmen. Es gibt keine Anzeichen, dass sich das durch den Brexit ändern wird. Auch der Erfolg von Schweizer Büros bei Wettbewerben in EU-Ländern sollte den Kolleginnen und Kollegen im Vereinigten Königreich Anlass zu Hoffnung geben. Solange die offene Wettbewerbskultur fortbesteht, wird sich die Qualität von planerischen Leistungen halten können. In diesen Bereich hat sich die EU bisher nicht mit besonderer Vehemenz eingemischt.
Mit dem Brexit werden sich verschiedene Einflussbereiche und Netzwerke noch stärker überlappen. Dies wird einen Wunsch nach weniger Komplexität und einfacheren Strukturen auslösen. Gerade Berufsverbände können an dieser Stelle ansetzen und Einfluss nehmen. Indem der Brexit das Potenzial hat, den ganzen Kontinent aufzurütteln – und er hat es weiss Gott nötig –, kann er sich unter Umständen als Chance erweisen. Architektinnen und Architekten können Europa zeigen, was Firmitas, Utilitas, Venustas heute für eine Bedeutung hat. Hoffentlich packen sie es.