Werte und Brüche
Manuel Pestalozzi
4. luglio 2018
Vorbild für die Zukunft? Strassenkreuzung im Zentrum von Le Havre, das nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Federführung von Auguste Perret neu gebaut wurde. Bild: Matthias Koch
Europas traditionelle Baukultur hat der Stadt bedeutende Impulse verliehen. Das Buch «Urbanität und Dichte im Städtebau des 20. Jahrhunderts» will zeigen, dass diese stets eine zukunftstaugliche Alternative zur klassischen Moderne geboten hat.
An den Autor des Buches, Wolfgang Sonne, mögen sich in der Schweiz die einen und anderen vielleicht erinnern, wirkte er doch an der ETH Zürich während Jahren als Assistent in der Professur für Geschichte des Städtebaus unter Vittorio Magnago Lampugnani. Seit 2007 ist Sonne Professor für Geschichte und Theorie der Architektur an der Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen der Technischen Universität Dortmund. Das Buch erschien ursprünglich 2014, 2017 folgte eine zweite Auflage. Heuer erhält die englische Version den «IPHS Book Prize 2018». Der Preis wird alle zwei Jahre von der International Planning History Society (IPHS) als 1st prize for the most innovative book in planning history written in English vergeben und diesen Juli in Yokohama überreicht.
Das gewichtige Werk (240 × 300 mm, 360 Seiten dicker, griffiger Zellstoff) scheint also auf breites Interesse zu stossen. Dieser Swiss Architects-Redaktor hat deshalb ein Rezensionsexemplar der deutschen Version bezogen und sich zu Gemüte geführt. Seine Beschäftigung mit dem Buch bestätigte eine Vermutung, die der akademischen Biographie des Autors geschuldet war: Es handelt sich um eine Publikation, die dem Traditionalismus in der Geschichte des Städtebaus zu seinem Recht verhelfen möchte. Von der Erscheinung her ist sie zwar alles andere als ein Pamphlet, das eindringlich für eine Sache einsteht. Stattdessen kommt sie als kulturhistorisch-wissenschaftliche Arbeit daher, die sie ja auch ist – mit wenig Prägnanz in Grafik und Aussage aber doch mit einer Mission und klaren Statements, die von politischer und «kulturkämpferischer» Bedeutung sind. Es ist ein Buch mit einer These – so beginnt Wolfgang Sonne sein Vorwort. Sie lautet: Durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch hat es in Europa und in Nordamerika Beispiele und Positionen eines dichten und urbanen Städtebaus gegeben.
Die Rue corridor wurde nie getötet, wie es Le Corbusier einst forderte. Entwurf von Georg Salzmann für den Wettbewerb Unter den Linden, Berlin, aus dem Jahr 1926. Bild: DOM Publishers
Gegensätze und -positionen
Ausgangslage von Wolfgang Sonnes Buch ist der Gegensatz zwischen der Kontinuität und den Brüchen in der Geschichte des Städtebaus in Europa und Nordamerika. Er macht für die Stadtentwicklung des 20. Jahrhunderts zwei Pole aus: einerseits die «urbane Stadt», die sich in ihrem Wesen auf die Vergangenheit bezieht und auf vertrauten formalen Massnahmen gründet – architektonisch geschlossene Räume, ordnende Elemente wie Traufen oder Arkaden, also grundsätzlich horizontale Abstufungen, und anderes. Den Gegenpol bildet die Stadtauflösung, aus avantgardistischer Position propagiert von der Gartenstadt-Bewegung und später vom CIAM.
Der Autor nimmt dezidiert Partei für die Kontinuität, also die «urbane Stadt», der er die Schaffung von Dichte (dieser Begriff wird «kulturell verstanden») zutraut. Zudem vertritt er die Meinung, dass man der Weiterentwicklung dieser Idee der Stadt im 20. Jahrhundert lange zu wenig Beachtung geschenkt hat oder sie gar mehr oder weniger totschwieg. Deshalb hat er sich die Aufgabe gemacht, diesen vermeintlich vergessenen Teil der Geschichte des Städtebaus in Erinnerung zu rufen. Das Buch ist über weite Strecken eine Sammlung von theoretischen Publikationen zur Planung, von Projekten und von realisierten Massnahmen. Weniger wäre mehr gewesen, denkt man als Nichtwissenschaftler beim Durchblättern gelegentlich, wenn die bottom line, also das in Aussicht gestellte Fazit, in der schieren Masse an aufwendig erläuterten Fallbeispielen unterzugehen droht. Doch der Autor will eben seine These wirklich solide im geschichtswissenschaftlichen Fundament verankern.
Der «Reformblock» wird als Grundelement des «urbanen Städtebaus» präsentiert. Hendrick Petrus Berlage, Wohnblock am Museumterreinen in Amsterdam, 1895-1986. Bild: DOM Publishers
Sehnsucht nach Ordnung
Wolfgang Sonne arbeitet in drei Hauptkapiteln Elemente der «urbanen Stadt» – immer als Gegensatz zur modernistischen «Stadtauflösung» verstanden – mit seiner geordneten Beispielsammlung heraus: Reformblöcke für das Wohnen, architektonisch geschlossene Plätze und Strassen als Bühne der städtischen Öffentlichkeit, sodann Hochhäuser als Generatoren von öffentlichen Stadträumen. Grob abgekürzt sind unter Reformblöcken grössere, entrümpelte, Strassenräume begrenzende Blockrandbebauungen zu verstehen. Die Plätze und Strassen befassen sich unter anderm mit der Städtebautheorie von Camillo Sitte, den Zentrumsplanungen von Marcello Piacentini in Italien und den von öffentlichen Institutionen getriebenen Planungen in der angelsächsischen Welt, etwa den Civic Centers, wie sie beispielsweise von der City Beautiful-Bewegung in den USA propagiert wurden. Bei den Hochhäusern wird die These dokumentiert, dass sie in einem direkten Bezug von angemessen gross dimensionierten Freiräumen stehen sollten.
Die grossenteils historischen, also nicht den gegenwärtigen Zustand wiedergebenden Darstellungen aus den Jahren 1890-1950 spiegeln die Sehnsucht nach einer umfassenden Ordnung wider, in der nichts aus der Reihe tanzt. Die Projekte, denen Wolfgang Sonne einen exemplarischen Charakter zuordnet, werden meistens als Pläne oder Perspektiven respektive Fotos aus der Luft dargestellt. Zu erblicken sind harmonische Ensembles, deren Dimensionierung und Ausprägung strengen Regeln unterworfen ist – bei den Reformblöcken denkt man wiederholt an grosse Kasernen. Die Höhenabstufung ist einer strengen Hierarchie unterworfen – es dominieren Paläste öffentlicher Institutionen, welche die Umgebung gewissermassen unter ihre Fittiche nehmen. Diese Ordnung, so denkt hier der kritische Leser, bedeutet Erstarrung. Nicht einzelne Bauten, ganze Ensembles sind für die Ewigkeit geplant und müssten konsequent gleich bei der Fertigstellung unter Schutz gestellt werden.
Das Hochhaus mit Freifläche als Leuchtturm in der gebauten Masse. Verwaltungsgebäude am Smolensker Platz in Moskau von Wladimir Gelfreich und Michail Minkus 1947-1953. Bild: Jennifer Tobolla
Technik, Kultur, Politik
Die beiden letzten Kapitel widmen sich in inhaltlich analoger Manier wie die vorangegangenen «Elementkataloge» dem «konventionellen und traditionalistischen Wiederaufbau 1940-1960», respektive der «Stadtreparatur 1960-2010». Sie schaffen etwas mehr Alltagsnähe und relativieren den Eindruck, dass die «urbane Stadt» nur mit Zuchtmeisterinnen und -meistern möglich ist, die, mit unbegrenzten Vollmachten ausgestattet, über grössere Gebiete eine uneingeschränkte ästhetische Kontrolle ausüben können. Ein bleibender Eindruck, den dieses Buch hinterlässt, ist allerdings das Gefühl, dass der präsentierte, auf postulierte künstlerisch-räumliche Konventionen beruhende Städtebau mit einer Demokratie, die Mitspracherechte einräumt, schwer vereinbar ist.
Auch fragt sich, ob das kulturelle Fundament der «urbanen Stadt» wirklich so solide ist, wie es Wolfgang Sonne darstellt. Die Rolle der Mobilitätsbedürfnisse bei der Entwicklung der Städte nach dem Zweiten Weltkrieg wird nur am Rande erwähnt, obwohl sie eine eminente kulturelle Relevanz hat. Die Stadt als Werkplatz kommt ungenügend zur Geltung, auch wenn ohne weitere Beweisführung behauptet wird, dass sich in der «urbanen Stadt» die Funktionen Wohnen und Arbeiten besser kombinieren lassen als in der modernistischen, aufgelösten Stadt. Und wiederholt wird über die Schaufensterfronten in den Paradiesen der Flanierenden geschwärmt, derweil es überall in europäischen und amerikanischen Innenstädten ernsthafte Probleme mit Erdgeschossnutzungen und dem Detailhandel gibt.
Zu denken gibt schliesslich die Vorstellung über die Art der Menschen in den «urbanen Städten», die sich aus der Lektüre ergibt. Wolfgang Sonne scheint primär an gut situierte Bildungsbürgerinnen und -bürger in geordneten Verhältnissen zu denken, die sich an den schön komponierten Baumassen und ihren Fassaden ergötzen, bevor sie in die Oper eintreten. An einem Ort im Buch wird Camillo Sitte zitiert, wie er die durchkomponierten, architektonisch geschlossenen Zentren als «Stadt im Sonntagskleide» bezeichnet, als Gegensatz zu den Wohnquartieren, der «Stadt im Werktagskleide». Dies evoziert eine biedermeierlich verklärte Vision der Stadt und ihrer züchtig-vernünftigen und gesitteten Bevölkerung, wie sie vermutlich so nie und nirgends existiert hat. Ein derartiges Bild der Stadt, die eben immer auch eine «Maschine» sein muss, die schwitzt und keucht und stinkt, ist schon vor der Prüfung auf seine Realitätstauglichkeit kompromittiert.
Kein «Reformblock», aber den gegebenen Strassenraum begrenzend; im Kapitel «Stadtreparatur» werden diese «Townhouses» am Friedrichswerder in Berlin für «gehobenes und familienfreundliches Wohnen in der Innenstadt» vorgestellt. Bild: Philipp Meuser
Wolfgang Sonne
Urbanität und Dichte im
Städtebau des 20. Jahrhunderts
240 × 300 mm, 360 Seiten, ca. 350 Abbildungen
Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-86922-321-6 (Deutsch, 2. Auflage)
ISBN 978-3-86922-491-6 (Englisch, 2. Auflage)
EUR 98.00 / CHF 117,60
Mai 2017. DOM publishers, Berlin