Rotterdam – Mut zur Moderne
Ulf Meyer
19. gennaio 2017
Rotterdam. Bild: Ossip van Duivenbode
Aus der Not eine Tugend zu machen, ist eine Rotterdamer Eigenschaft: Als nach einem Angriff der deutschen Luftwaffe die Innenstadt im Mai 1940 völlig in Trümmern lag, begann die Stadt, sich als Metropole der Moderne neu zu erfinden.
Hinter dem bis heute spürbaren unbedingten Willen zur Moderne steht in Rotterdam der Zwang, zeitgenössische Architektur zur Attraktion zu machen. Denn mangels eines mittelalterlichen Stadtkerns, mit dem das nahe Amsterdam glänzt, bleibt Rotterdam nichts Anderes übrig, als sich über die Moderne zu definieren.
Die Stadt Rotterdam ist vor allem bekannt für ihren riesigen Güterhafen, den grössten Europas. In den letzten Jahren wurde er Stück für Stück von der Stadtmitte gen Westen verschoben, in Richtung offene See. Das hat Rotterdam in seinem Zentrum einen riesigen Flächenzuwachs beschert – und den haben Stadtplaner geschickt genutzt, um die leere Mitte der Stadt aufzumöbeln. Die Gegend an der Neuen Maas gehört heute zu den begehrtesten Lagen der Stadt. Der Fluss rückt zusehends in das Zentrum der 600'000-Einwohner-Stadt, denn seit 1996 verbindet die strahlend weisse, asymmetrische Erasmus-Brücke das südliche Maasufer mit der Innenstadt. Ihr Pylon ist zum Symbol des neuen Rotterdam geworden.
Am anderen Ufer der Maas liegt der Wilhelminaplein mit dem roten Luxor-Theater und am Ende des angrenzenden Docks «Kop van Zuid», das nach Vorbild der Londoner Docklands zum modernsten Stadtteil Rotterdams ausgebaut wird, der ehemalige Hauptsitz der Holland-Amerika-Linie. Mit ihr gelangten ab 1873 hunderttausende europäischer Emigranten in die Neue Welt. Das Jugendstil-Haus von 1919 mit seinen markanten Ecktürmchen wurde 1993 renoviert und zum stimmungsvollen «Hotel New York» umgebaut. Es agiert wie ein städtebaulicher Anker inmitten seiner auf die Moderne frisierten Umgebung.
«Blumentopf in Chrom». Bild: MVRDV
Erweiterung im Museumspark
Es ist es nur folgerichtig, dass Rotterdam als «Stadt der Moderne» auch das grösste Architekturmuseum der Welt besitzt. Das «Nieuwe Instituut» bildet zusammen mit dem Museum Boijmans van Beuningen, dem Naturkundemuseum und der Kunsthalle von Rem Koolhaas den Museumspark von Rotterdam. Das Niederländische Architekturinstitut (NAi) darin, eines der wichtigsten und aktivsten Architekturmuseen Europas, wurde jüngst nach Umbau wiedereröffnet. Der Bau, 1993 nach Plänen von Jo Coenen eröffnet, erhielt durch den Umbau neue Attraktionen.
Die Sammlung des Museum Boijmans Van Beuningen nebenan ist über die letzten 165 Jahre auf 145'000 Objekte angewachsen. Weniger als ein Zehntel wird davon bisher ausgestellt. Bald soll deshalb in einem von MVRDV entworfenen «Collectiegebouw» die ganze Sammlung dauerhaft öffentlich zugänglich gemacht werden. MVRDVs sechzig Meter breite, reflektierende Schale neben dem Altbau des Museums, Blumentopf in Chrom genannt, versteht sich als Gebäude neuen Typs – vergleichbar mit dem Schaulager in Münchenstein. Das öffentliche Depot ist Schatzkammer und Lagerhaus zugleich, in dessen Werkstätten und Laboren die professionelle Konservierung und das Management von Kunstwerken «live» zu erleben sein werden. Das dreissig Meter hohe Atrium wird von einem hängenden, Piranesi-haften Treppengewirr geprägt, an dessen Ende ein Dachgarten liegt, der zum Blick auf Rotterdams wachsende Skyline einlädt.
Ständige Modernisierung
Zwar haben seit den 1990er-Jahren Architekten wie Helmut Jahn, Renzo Piano, Norman Foster und Alvaro Siza ihre Spuren im Stadtbild von Rotterdam hinterlassen, einflussreicher ist aber die örtliche Architektenschaft um OMA/Koolhaas, MVRDV, Kempe Thill, Neutelings Riedijk und DE URBANISTEN. Dieses örtliche Architekten-Milieu propagiert die immerwährende Modernisierung ihrer Stadt. Trotz dieses «Moderne-Stresses» pflegt die Stadt auch auf ihre Wurzeln, speziell wenn sie in die Narration der Moderne passen: Das für seine flächigen Primärfarben berühmte Café de Unie eröffnete 1925 und wurde 1986 originalgetreu rekonstruiert. Dieses Kaffeehaus liegt an einer der wenigen erhaltenen Grachten in Rotterdam, wo sich noch erahnen lässt, wie die Stadt vor dem Krieg ausgesehen haben muss, bevor die zerbombte Innenstadt in den 1950er-Jahren eilig wiederaufgebaut wurde.
Viele Gebäude aus dieser Zeit kommen jetzt in Jahre und werden umgebaut: Ein riesiger neuer «Flügel» wurde der Centraal Station nach Entwurf von Benthem Crouwel hinzugefügt. Das 1957 von Sybold van Ravesteyn errichtete Gebäude wird von über 110'000 Passagiere täglich genutzt und agiert als Tor zur Stadt. Neben verkehrstechnischen Verbesserungen wurde bei dem Umbau auch städtebaulich argumentiert: Die janusköpfige Architektur des neuen Hauptbahnhofs verfügt über zwei Gesichter, die an die jeweilige städtische Umgebung angepasst sind. Im Norden fügt sich die Gleishalle in die Nachbarschaft Provenierswijk ein, während nach Süden das Dach zum Hochhausviertel hin steil aufragt. Als neue «Kathedrale von Rotterdam» gilt jedoch die Markthalle, ein 40 Meter hoher Neubau in der Form eines extrudierten Hufeisens. Die Marktfläche mit hundert Ständen wird von einer zwölfgeschossigen Mantelbebauung, in der sich mehr als 200 Wohnungen befinden, vor Wind und Wetter geschützt. Die Rotterdamer Künstler Arno Coenen und Iris Roskam haben die gigantische innere Fassade gestaltet: «Horn of Plenty» nennen sie ihren Mix aus Obst, Gemüse, Kühen, Fischen und Blumen, der kreuz und quer das Tonnendach schmückt.
Markthalle, 2014. Bild: Ossip van Duivenbode
Im Bau: OMA, Mei Architects und Wessel de Jonge
Der neue Höhepunkt der Skyline von Rotterdam ist der «De Rotterdam» genannte Dreifach-Turm von OMA mit Wohnungen, Büros und einem chicen Hotel an der Maas. Das Turmbündel bereichert das Stadtbild aus dem vorbeifahrenden Auto um eine «kinetische Erfahrung» am Kop van Zuid. Die «De Rotterdam» war einst das Flaggschiff der Holland-Amerika-Linie, die Zehntausende nach New York brachte – wo Koolhaas einst das Hochhaus-Prinzip der Lobotomie studierte, der Trennung der äusseren Erscheinung eines Gebäudes von seinen Geschossflächen, die jedes beliebige Programm aufnehmen können. Die drei Hochhäuser ruhen auf einem dreissig Meter hohen Sockel mit Lobbys, Restaurants und Bars. Hauptnutzerin der Büroflächen ist die Stadt Rotterdam, deren Mietzusicherung das Projekt möglich gemacht hat.
Wie schnell ein Viertel in Rotterdam «in» werden kann, beweist das «Fenix Loft» am Deliplein in Katendrecht, das derzeit auf einem Lagerhaus von 1922 gebaut 212 Loft-Apartments vorsieht und als «grösste Baustelle der Niederlande» gilt. C.N. van Goor hatte die Halle als für zwei Eisenbahnlinien befahrbar konzipiert, seit den 1980er-Jahren war sie aber ungenutzt. Mei Architects haben das Gebäude so geformt, dass man von den oberen Etagen Blicke über den Wilhelminapier und Katendrecht hat. Aussen sollen «industriell wirkende» Fassaden den Dockland-Charakter unterstreichen, während innen Pflanzen und warme Materialien dominieren.
«Fenix Loft», Aussicht Rijnhaven. Bild: Mei&WAX
Welches Potenzial in den Gewerbebauten der Frühmoderne in Rotterdam steckt, illustriert kein Projekt besser als die Van-Nelle-Fabrik am Spaanse Polder von 1931 (Architekt: Brinkman und van der Vlugt), in der einst Kaffee, Tee und Tabak verarbeitet und verpackt wurde. Sie stand seit 1995 leer, aber ist als Büro- und Veranstaltungshaus zu neuem Leben erwacht. Für eine Industriearchitektur, die funktional und ästhetisch ist, gilt die Van-Nelle-Fabrik bis heute als leuchtendes Beispiel. Als die Kaffee-Firma Sara Lee/DE 1995 den Komplex verkaufte, legte der «Rijksdienst voor de Monumentenzorg» fest, welche Änderungen möglich sein sollten. Die neue Van Nelle Design Factory (VNOF) ist das Werk des Architekten Wessel de Jonge, der schon 80 junge Designfirmen in der alten Fabrik ansiedeln konnte.
Die Stadt Rotterdam hat es als Ehre empfunden, dass die elegante Fabrik als UNESCO-Weltkulturerbe ausgezeichnet wurde. Denn die Ernennung beweist, dass das Erbe der Moderne auch touristisch zu einem Pfund wird, mit dem Hollands zweitgrösste Stadt wuchern kann. Da die Stadt weder van Gogh noch Anne Frank zu bieten hat, muss sie sich weiterhin über das Erbe der klassischen Moderne und ihre Fortschreibung in unsere Zeit definieren.
Der Text erschien ursprünglich im Herbst 2016 auf German-Architects.com.
Ulf Meyer hat in Berlin und Chicago Architektur studiert. Er arbeitete bei Shigeru Ban Architects in Tokyo und unterrichtete an der Kansas State University, der University of Nebraska-Lincoln und der Tamkang University in Taiwan. Heute lebt und arbeitet Meyer als Architekturjournalist in Berlin.