Nina Cattaneo und Pascal Marx sehen Architekt*innen in der Verantwortung, sich für gute Baukultur einzusetzen. Sie sprachen mit Elias Baumgarten.
Mit vollem Einsatz
9. gennaio 2020
Von links nach rechts: Nina Cattaneo, Pascal Marx, Bettina Marti und Alice Janna Müller (Foto: Douglas Mandry)
«Um- und Weiterbauten sind die Aufgaben unserer Generation», sagen Nina Cattaneo und Pascal Marx, die gemeinsam mit Bettina Marti das Büro Ruumfabrigg führen. Wichtig sind den jungen Glarnern regionale Eigenheiten und Bautraditionen. Sie möchten Häuser entwerfen, die hohe Aufenthaltsqualität bieten und Identifikation ermöglichen. Sie stören sich an «bezugslosen Bauten». Doch ist es ihnen zu wenig, nur zu kritisieren. Sie engagieren sich: Im Auftrag der Gemeinde Glarus Nord erstellen sie zusammen mit der STW AG für Raumplanung aus Chur aktuell acht räumliche Dorfbilder als Teil der Revision der Nutzungsplanung. Diese werden nicht nur publiziert, sondern auch an öffentlichen Dorfspaziergängen präsentiert und besprochen.
Elias Baumgarten: Kürzlich wurde euer Umbau eines Wohnhauses in Bergdietikon fertig. Gerade arbeitet ihr an der Umgestaltung eines alten Hauses in Amden. Habt ihr eine besondere Vorliebe für das Bauen im Bestand?
Pascal Marx: Um- und Weiterbauen sind die Aufgaben unserer Generation. Es ist schon viel gebaut in der Schweiz, der Grad an Zersiedelung ist hoch. Leere oder nicht voll genutzte Parzellen sind oft umgeben von anderen Bauten. Das leere, kontextlose Grün existiert nicht mehr – zum Glück! Zusätzlich bringt die Forderung nach innerer Verdichtung diese Bauaufgaben automatisch mit sich.
Zugleich bereitet uns die Arbeit mit dem Bestand aber auch schlicht Freude. Wir finden es interessant, alte Häuser zu analysieren. Es reizt uns, ein Verständnis für sie zu entwickeln. Ich persönlich denke sogar, dass es leichter ist, mit dem Bestand als Reibungsfläche zu gestalten.
Nina Cattaneo: Der Spassfaktor spielt bei uns schon eine grosse Rolle! Du hast unser Projekt in Amden angesprochen – dort haben wir zum Beispiel sehr lange nach einem bauzeitlichen Ofen gesucht. Viele Male haben wir alle möglichen Bauteillager besucht, ehe wir endlich das passende Stück gefunden hatten. Das war extrem spannend und eine schöne Zeit.
Ausserdem können wir von Bestandsbauten viel lernen. Wir fragen immer nach einer zeitgemässen Adaption alter Gestaltungsprinzipien. Führer wurden Gebäude zum Beispiel innen bisweilen mit Russ bestrichen, also dunkel gestaltet. Unsere Bauherrschaft in Amden wünschte sich grosszügige Räume, wollte jedoch die geringen Raumhöhen beibehalten. Die Standardantwort Schweizer Architekt*innen wäre nun gewesen, einen white-wash zu machen. Wir aber haben über unsere Beschäftigung mit alten Bauten – Pascal arbeitet seit zwei Jahren zusätzlich als Bauberater bei der Denkmalpflege des Kantons Schwyz – und Modellstudien herausgefunden, dass dunkle Wandfarben in Kombination mit hellen Böden und Decken die Räume grösser wirken lassen. Diese Erkenntnis wenden wir nun an, und während wir sprechen, erhalten die innenliegenden Wände des Hauses einen dunklen Anstrich.
Ruumfabrigg arbeitet aktuell am Umbau eines alten Wohnhauses in Amden. (Foto: Ruumfabrigg)
Farbtests auf der Baustelle in Amden (Foto: Ruumfabrigg)
Einbau des bauzeitlichen Ofens, der erst nach langer Suche gefunden wurde. (Foto: Ruumfabrigg)
EB: Das tönt nach grosser Wertschätzung für regionale Bautraditionen, nach Sensibilität und Zurückhaltung. Doch beim erwähnten Umbau in Bergdietikon habt ihr sehr stark in den Bestand eingegriffen und die kleingekammerte Raumeinteilung radikal aufgebrochen.
PM: Zunächst ist der 150-jährige Bestandsbau kein Schutzobjekt – wäre das anders gewesen, wäre unser Eingriff wohl weniger radikal ausgefallen. Wir haben überlegt, was wir aufgrund seiner Qualität erhalten möchten und was geändert werden kann. Die Innenwände haben wir entfernt. In die alte Hülle – sie besteht aus bis zu 80 Zentimeter dicken Bruchsteinwänden – haben wir eine neue Konstruktion gestellt. Sie liegt auf den Aussenwänden auf. Ihre Achsen orientieren sich an den Öffnungen und Rücksprüngen des Bestands. Pfosten und Balken bilden ein tragendes System, dazwischen eingespannte Füllflächen definieren die Räume. Damit ist die neue Struktur konstruktiv der vormaligen verwandt.
Umbau eines Wohnhauses in Bergdietikon, 2019 (Foto: Douglas Mandry)
Foto: Douglas Mandry
Im Uhrzeigersinn von unten links: Grundrisse von Erd-, Ober- und Dachgeschoss, Schnitt
Kritisieren? Engagieren!NC: Es braucht immer etwas Zusätzliches, eine eigene Gestaltungsidee. Mal ist architektonisch ein kraftvoller Eingriff richtig, dann wieder eine feine, dezente Intervention. Es kommt darauf an, Alt und Neu zusammenzubringen und ein Gewebe daraus zu stricken. Uns stört das bezugslose Bauen in der Schweiz. Seit den Nachkriegsjahren wurde die Gestaltung des öffentlichen Raumes – gerade auf dem Land und in den Dörfern – vernachlässig. Es ist ein beliebiger Einheitsbrei entstanden, mit dem sich niemand identifizieren kann. Vom Aargau bis Glarus und von Lugano bis Wil sehen private Neubauten in der ganzen Schweiz gleich aus!
EB: Das sind harte Worte! Nun ist es einfach zu kritisieren; mit eurem Projekt «Räumliche Dorfbilder» steuert ihr jedoch auch konkret gegen und engagiert euch für eine hochstehende Baukultur. Wie kam es dazu? Und worum geht es dabei eigentlich genau?
NC: Nach der Fusion von acht Dörfern zur Gemeinde Glarus Nord wurde eine Harmonisierung der Baugesetzgebung und eine Überarbeitung der Nutzungsplanung nötig. Dieser Prozess startete Ende 2011 und wurde durch die STW AG für Raumplanung aus Chur und ein Expertenteam geführt, das aus Peter Märkli, Rita Illien und Stefan Forster bestand. Schon die Konzeption und der Gemeinderichtplan, welche von den Stimmberechtigten gutgeheissen wurden, verfolgten ganz neue raumplanerische Denkansätze und arbeiteten mit der Topografie. Doch ein erster Vorschlag für die grundeigentümerverbindliche Nutzungsplanung (NUP I) wurde 2017 von der Stimmbevölkerung zurückgewiesen. Kritisiert wurden die Bauzonenreduktionen, die Gewässerräume, die Schutzvorkehrungen und auch das Baureglement.
Vor über einem Jahr dann wurde ich angefragt, als Architektin aus der Gegend in einer der Fokusgruppen zur Nutzungsplanung II Glarus Nord (NUP II) mitzuarbeiten. Das war sehr spannend für mich. Ich war das jüngste Mitglied der Gruppe und obendrein eine der wenigen Frauen. Ich habe mich sehr gründlich eingelesen und konnte mir rasch viel Wissen aneignen. Das scheint beeindruckt zu haben, denn bald kam die Idee auf, ich solle doch an einem Baulinienplan mitarbeiten. Abgesehen davon, dass dieser ein separates Planungsinstrument ist, das nicht Bestandteil der Nutzungsplanung ist, sondern einer nachgelagerten Sondernutzungsplanung, haben wir dieses Vorgehen kritisch hinterfragt. Wir kamen im Büro zu dem Schluss, dass eigentlich weniger die Baulinien matchentscheidend sind als vielmehr eine gründliche Untersuchung der Dörfer mit ihren wesentlichen Charakteristika wie Körnung, Bebauung, Freiräumen und Typologien als gemeinsame Basis für alle an der Planung Beteiligten. Unser Vorschlag stiess bei der Gemeinde auf offene Ohren. Seither dürfen wir gemeinsam mit der STW und im inhaltlichen Austausch mit der Landschaftsplanerin Silke Altena an Dorfanalysen arbeiten, die auf eine Publikationsreihe hinzielen. In jedem Buch wird ein Dorf analysiert, dessen vorhandene bauliche Strukturen und Zwischenräume werden beurteilt und gewürdigt. Wir zeigen dabei Potenziale auf und identifizieren etwaigen Handlungsbedarf. Für Obstalden, Oberurnen und Mühlehorn ist diese Arbeit schon erledigt, in diesem Jahr folgen Bilten, Filzbach, Mollis, Näfels und Niederurnen.
PM: Wie der Name schon sagt, geht es um die räumlichen Beziehungen in den Dörfern. Wir führen die Arbeit der NUP I weiter und präzisieren diese im Bereich der Zwischenräume. Raumplanung basierte bis anhin hauptsächlich auf zwei Dimensionen. Architektur, Topographie und Bezüge wurden wenig berücksichtigt. Ein gutes Beispiel dafür ist Mühlehorn, das an den steilen Hängen oberhalb des Walensees liegt. Betrachtet man den Zonenplan, übersieht man leicht, wie stark das Gelände zum See hin abfällt. Dort werden steile Restflächen, die vielleicht gar nicht zur Bebauung ausgeschrieben sein sollten, mit grossen Terrassenhäusern aufgefüllt. Allein mit dem Fokus auf Ausnützung, Aussicht und Besonnung entstehen keine aussenräumlichen Beziehungen.
Beim Thema Raumplanung möchte ich noch einen Sprung machen und anfügen, dass wir das Bauen ausserhalb der Bauzonen als grosses Problem empfinden. Das gilt, obwohl man uns vorhalten könnte, dass wir in Obstalden 2016 selbst schon einmal einen Umbau ausserhalb der Bauzone realisiert haben. Wir haben lange diskutiert, ob man dort überhaupt sollte bauen dürfen, der Eigentümer wollte einen Ersatzneubau. Schlussendlich konnten wir ihn überzeugen, die Mehrheit der Bestandsbauten zu behalten und lediglich zu erweitern.
NC: Das Projekt in Glarus Nord ist indes nicht unser einziges Engagement: Wir sind auch im Glarner Architekturforum. Dazu versuchen wir an Podien, mit Vorträgen und Leserbriefen private wie öffentliche Bauherr*innen aufzufordern, qualitätsvolle Architektur zu ermöglichen. Letztes Jahr durften wir zum Beispiel auf einem Podium der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften in der Bibliothek Oechslin vor grossem Publikum sprechen.
EB: Und ihr organisiert zusammen mit der Gemeinde und der STW immer wieder Dorfspaziergänge für alle Interessierten, an denen eure räumlichen Ortsbilder besprochen werden. Gelingt die Sensibilisierung der Bevölkerung?
PM: Vermittlung ist extrem wichtig. Das funktioniert im persönlichen Gespräch, ist aber harte Arbeit. Hierzulande herrscht leider oftmals die Meinung vor, jeder dürfe auf seinem Grundstück machen, was immer ihm beliebt. Jede Vorgabe wird gleich als Teilenteignung verstanden…
NC: …und das sehen wir eben einfach anders! Architektur ist immer öffentlich! Jeder gestaltet seine Strasse sowie den angrenzenden Aussenraum mit und prägt so sein Dorf. Dafür muss und kann man die Menschen sensibilisieren, auch wenn es dabei immer wieder Rückschläge und Enttäuschungen gibt. Unser schönstes Erlebnis war der Dorfspaziergang in Obstalden. Eine Person hat gegen Ende der Tour nach Amden am gegenüberliegenden Ufer des Walensees gedeutet und gesagt: «So wie die dürfen wir es nicht machen.» Dann hat sie ausführlich begründet, wieso. In diesem Moment wurde uns klar, dass die Menschen verstehen, worum es geht, wenn man es ihnen nur erklärt. Man merkt, dass zwischenzeitlich ein wichtiger Teil des Dorfgesprächs geworden ist, was gebaut wird. Auch erhalten wir vermehrt Aufmerksamkeit von weiteren Gemeinden und Kolleg*innen. Es gelingt uns je länger, je mehr, an dieser Diskussion mitzuwirken.
Ruumfabrigg mit der STW AG für Raumplanung, Dorfbildplan von Mühlehorn, 2019
Dorfbildplan von Obstalden, 2019
Dorfbildplan von Oberurnen, 2019
Dorfspaziergang in Obstalden (Foto: Pascal Marx)
In GefahrEB: Euer Einsatz für die Baukultur führt mich zu einem weiteren Thema, das ich gerne mit euch besprechen möchte: das Wettbewerbswesen. In der Schweiz gibt es aktuell weniger offene Architekturwettbewerbe. Zudem scheint sich der Fokus von der Gestaltung und dem Konzept weg hin zu den Kosten zu verlagern. Für die Baukultur als ganze ist das eine gefährliche Entwicklung. Besonders hart ist sie jedoch für junge Büros, die noch weitgehend unbekannt sind.
PM: Das ist ein grosses Thema für uns, wir diskutieren viel darüber. Wir sind in Sorge! Nina hat zum Beispiel am Kurzvortragsabend des Schweizerischen Ingenieurs- und Architektenvereins (SIA) in Zürich vor einigen Wochen darauf hingewiesen. Zuerst sind offene Verfahren der beste Weg, eine gute Baukultur sicherzustellen. Und dann sind sie in der Tat sehr wichtig gerade für uns junge Architekt*innen – auch wenn wir es beim Studienauftrag für die Wohnüberbauung «Isleren» in Rudolfstetten schon durch eine Präqualifikation geschafft haben. Konkurrenzverfahren sind der vielversprechendste Weg, Akquise zu machen: Du kannst gewinnen, du kannst auffallen und du hast nachher in jedem Fall einen Entwurf vorzuweisen. Natürlich könnte man sich auch ins Café setzen oder in ein Restaurant und mit Leuten sprechen; oder man könnte all die Stunden, die man mit Wettbewerbsentwürfen zubringt, in die Entwicklung von Projekten stecken, die man hernach einer potenziellen Bauherrschaft direkt vorlegt. Aber wie realistisch ist das?
NC: Mich beunruhigt etwas anderes noch weit mehr: Vielleicht gewinnt man als junges Büro unter höchstem Einsatz tatsächlich, doch dann sagt einem jemand, es sei üblich, zehn Prozent Rabatt auf die Arbeitsstunden zu gewähren. Wir haben das schon erlebt und auch von Kolleg*innen gehört. Man ist so sehr darauf angewiesen, dass das Projekt umgesetzt wird, dass man sich früher oder später breitschlagen und auf weniger als die festgesetzten 125 Franken pro Stunde herunterhandeln lässt. Und wenn man dann noch bedenkt, dass künftig vielleicht die Honorare wegen dem Wegfall der LHO überhaupt nicht mehr in der Wettbewerbsausschreibung festgelegt werden sollen, oder gar die drei Besten zur Verhandlung eingeladen werden, wie man es schon aus dem Ausland hört, dann bekomme ich grosse Angst. Das wäre ein wirtschaftliches Fiasko für uns Architekt*innen. Auch sehe ich nicht, wie das noch mit guter Baukultur zusammenzubringen wäre. Dabei sollten doch Konzepte und gestalterische Lösungen an einem Wettbewerb zählen und nicht die Kosten. Ich finde es todtraurig, dass all die Arbeit und die gesellschaftliche Leistung, die wir Gestalter*innen erbringen, nicht gesehen und angemessen bezahlt werden.
PM: Leider ist heute der monetäre Wert scheinbar oft der einzig wichtige. Zum Glück gibt es Ausnahmen: Die Arbeit, die wir im Zusammenhang mit den räumlichen Dorfbildern in Glarus Nord leisten, wird sehr wertgeschätzt. Und wir konnten auch schon einige Bauherr*innen von unserer Wertehaltung überzeugen.
NC: Manchmal hat man das Gefühl, dass es in den Städten professioneller zu und hergeht. Es scheint mehr und besser organisierte Wettbewerbe mit qualitätsvolleren Ergebnissen zu geben. Doch einen grossen Vorteil bietet das Land: Man kommt um vieles leichter an die Leute heran und kann im persönlichen Gespräch überzeugen. Daher werden wir intensiv an den räumlichen Dorfbildern weiterarbeiten.
Auch Pascal Marx studierte Architektur an der ETH Zürich. Er diplomierte bei Professor Dietmar Eberle und arbeitete schon während des Studiums selbstständig zusammen mit Nina Cattaneo. Zudem war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Future Cities Laboratory in Singapur. Seit 2018 ist er Bauberater bei der kantonalen Denkmalpflege in Schwyz.
Bettina Marti war als Assistentin in der Wirtschaftsprüfung tätig. Sie studierte Sportscience und schloss 2018 ein Masterstudium in Business Administration ab.
Auch die österreichischen Architekt*innen Stefan Marte sowie Kathrin Aste und Frank Ludin äusserten sich jüngst zum Wettbewerbswesen.