Miet-Moderne oder Religion für Atheisten
Ulf Meyer
13. dicembre 2018
Blick in die Hügellandschaft von Devon. Bild: © Jack Hobhouse/Living Architecture
Peter Zumthors Haus in Devon (UK) ist die siebte und letzte Miet-Villa der Bewegung «Living Architecture» von Alain de Botton.
Das würde man sich als moderner Mann nicht trauen, aber meine Begleiterin Jenny tut es einfach: Die rollenden Hügel der Landschaft in Devonshire als «voluptuous» beschreiben. Das kann «kurvig», opulent, rundlich, gut gebaut und sogar «lüstern» heissen. Die Agrarwirtschaft hier ist berühmt für ihre gute Butter und Sahne. Über den kurvigen Hügeln von Devon liegt ein strenges geometrisches Gitter, das diese Landschaft im Südwesten Englands einzigartig macht: Die schmalen Feldwege und Landstrassen sind beidseitig von dicken Hecken gerahmt. Die Wege, traditionell aus weichem Jurakalk gebaut, haben sich über die Jahrhunderte eingegraben und so sind die Strassen zu oben offenen Tunneln geworden.
Durch solch einen Tunnel hindurch fahren wir in Jennys Mini zum neuen Werk von Peter Zumthor. Das Haus ist durchaus Maxi. Mit fünf Schlafzimmern und einer fliessenden Raumlandschaft, in der Wohn-, Kamin- und Arbeitsraum nahtlos in die Wohnküche und den Speiseraum übergehen, ist es das grösste Haus in der «Living Architecture»-Reihe. Ist es überhaupt ein Haus oder eine Villa, oder ist es eine Art weltlicher Sakralraum? «Secular Retreat» heisst das Gebäude offiziell. Zumthor selbst findet diesen Namen «prätentiös» und würde es lieber nach seinem Bauort «Chivelstone House» nennen. Aber ein säkularer Esprit steckt durchaus in dem Haus und der Geschichte seiner Entstehung: Als Alain de Botton begann, seine Idee von der «mietbaren Moderne» in die Tat umzusetzen, konnte er nicht ahnen, wie erfolgreich sein Konzept werden würde. Das Buch des Schweizer Philosophen und Schriftstellers, «The Architecture of Happiness», (auf Deutsch: «Glück und Architektur. Von der Kunst, daheim zu Hause zu sein». S. Fischer, Frankfurt am Main, 2008) schlug ein: Zeitgenössische Architektur sollte nach Meinung von de Botton aus den menschenleeren Fotos in Hochglanz-Magazinen (und Bildschirmen) zu einem Raumerlebnis werden.
De Bottons zentrale Idee ist es, zeitgenössische Qualitäts-Architektur im wahrsten Sinne des Wortes zugänglich zu machen. In Grossbritannien gilt moderne Baukunst als un-populär und als nur für Millionäre oder Sozialmieter geeignet – «entweder unerreichbar oder unbeliebt», wie de Botton formuliert. Seine Miethäuser zeigen deshalb die ganze Bandbreite der zeitgenössischen Villenarchitektur. Sie muss erlebt werden! De Botton schuf das Projekt «Living Architecture» vor zwölf Jahren, konzipiert als Alternative zu den alten Herrenhäusern, die der National Trust in England an solvente Interessenten vermietet. Sechs bemerkenswerte Häuser sind unter seiner Regie gebaut worden und Zumthors Bau ist nun der Schlussstein des Reigens und sein vermutlich grösster Erfolg.
Zumthors Haus in devonshire ist von Monterey-Kiefern umgeben. Bild: © Jack Hobhouse/Living Architecture
Bild: © Jack Hobhouse/Living Architecture
Unweit der englischen Riviera an der Ärmelkanalküste gelegen und dennoch recht entlegen lebt Zumthors neustes Meisterwerk von der Balance zwischen Architektur und ihrer Umwelt. Immer wieder rahmt der Neubau Blicke in die umliegenden Weide-Landschaften von Devon. Kanadische, 20 Meter hohe Monterey-Kiefern, noch vom Vorbesitzer gepflanzt, und in der Landschaft fremd, markieren das Haus in seiner Umgebung. Zumthors Neubau ist an die Stelle eines hölzernen Bauernhauses aus den 1940er-Jahren getreten, das einst auf seiner Anhöhe wie auf einem Feldherrenhügel wirkte. Die Fenster sind entweder riesig (für die Haupträume) oder winzig (für die Nebenräume). Aber die Fassaden sind – wie meist bei Zumthor – beileibe nicht das Beste an dem Haus. Seine Präsenz verdankt Zumthors erstes Haus in Grossbritannien seinen massigen Wänden aus gestampftem Beton. Die riesigen Fenster sind zu schwer zum Öffnen und haben deshalb kleinere Öffnungsflügel. Die Horizontalität des Baus wird durch die zehn Streifen in den Betonwänden noch betont. Der von Hand gestampfte, nicht armierte Beton prägt Aussen- wie Innenräume. Seine Ausführungsqualität ist hervorragend. Die feinen Details versprechen, über viele Jahre in Würde Patina ansetzen zu können und zu altern. Das Haus liegt exponiert und ist dem Wetter dementsprechend stark ausgesetzt. Aber die Vegetation bietet Schutz. Die Landschaftsarchitekten der Rathbone Partnership haben rund um den Neubau Bäume und Büsche gepflanzt. Die Sommerterrasse und der Zugangsweg sind aus roh gehauenem blauem Jurastein gebaut, der auch die Feldwege ringsum prägt. Die Handwerklichkeit gibt dem Gebäude und seinen Aussenanlagen einen zeitlosen Ausdruck.
Geschichteter Stampfbeton prägt die Fassade. Bild: © Jack Hobhouse/Living Architecture
Die polygonale Form des eingeschossigen Gebäudes ist ein Resultat der Orientierung des Grundstücks, der Blicke und der Ausrichtung zu Licht und Wind. Vom hexagonalen, offenen Zentralraum gehen zwei Flügel für die Schlafzimmer ab. Stützen stemmen das flache Betondach über dem Wohnraum. Sie sind jedoch nicht zu sehen, sondern befinden sich in der Tiefe der wie Möbel eingestellten Stampfbeton-Elemente. Weil Sperrholzschalungen für die vertikalen Bauteile verwendet wurden, wirkt deren Oberfläche stumpf, während Kunststoffschalungen für alle horizontalen Oberflächen verwendet wurde, die glänzend wirken und leicht reflektieren. Das gibt den Interieurs eine Leichtigkeit und Eleganz. Gestärkt wird dieser Eindruck durch ein alles entscheidendes Detail: Zwischen den Stampfbeton-Elementen und der Decke liegt stets eine Schattenfuge. Keine einzige der burghaften, 70 cm dicken Wände berührt die Decke. Die Stützen werden so zu Möbeln. Mit raumhohen Vorhängen kann der Bereich als sozialer Mittelpunkt zusätzlich abgeschirmt werden. Alle Sofas, Stühle und Tische und Lampen hat der Architekt Zumthor selbst entworfen. Türen, Regale und Küchenmöbel sind kleine Kunstwerke. Das hier verwendete Apfel- und Kirschholz gibt dem Haus ein wenig Wärme. Jede Bodenplatte hat eine andere Form, die an die Muster auf dem Fell von Giraffen erinnert. Die Platten stammen aus einem Steinbruch in Somerset.
Alle Sofas, Stühle und Tische und Lampen hat der Architekt Zumthor selbst entworfen. Bild: © Jack Hobhouse/Living Architecture
Die Badewanne ist auch Holz. Bild: © Jack Hobhouse/Living Architecture
Die ruhigen Schlafzimmer haben Nischen und Einbaumöbel aus Holz, die Fussböden bestehen hier aus Birne und die Panorama-Fenster sind überwältigend. «Auf kein zweites Gebäude zu blicken, ist ein grosses Privileg», so Zumthor. «Die Ruhe und Kontemplation hier sind der wahre Luxus», sagt er.
Warum sollte moderne Architektur etwas für die Ferien sein? Bewirkt das Testwohnen am Ende bisweilen das Gegenteil und lässt zeitgenössische Architektur als Freizeit-Vergnügen, aber nicht Lebensgrundlage erscheinen? Tatsächlich gehört es zu de Bottons Mission «für gute Gestaltung zu werben, zu bilden und Einfluss» zu nehmen. Die Wahl für das siebte und einstweilen letzte Haus in der «Living-Architecture»-Reihe fiel auf de Bottons Landsmann Peter Zumthor, nicht zuletzt deshalb, weil er im Jahr 2011 den Serpentine Gallery Pavillon in London gestaltet hatte. Mark Robinson, der die alljährlichen «Follies» im Hyde-Park kuratiert hat, wählte auch die Gestalter für «Living Architecture». Den störrischen Architekten aus Graubünden für diese Reihe zu gewinnen, war für ihn eine schwierige und langwierige Aufgabe. Aber letztlich war das Grundstück so attraktiv, dass Zumthor zusagen musste. Unter zwei Bedingen: Er kann «sein Ding machen» und muss sich an keinen Bauzeitenplan halten. Von der ersten Idee bis zur Einweihung vergingen dann acht lange Jahre.
Der «säkulare Rückzugsort» ist einfach ideal für einen ländlichen Kurzurlaub mit Freunden. Das 375 Quadratmeter grosse Haus ist für zehn Personen gedacht – allerdings ist es im ersten Jahr bereits ausgebucht. Man kann es für drei Nächte unter der Woche oder für ein vier Nächte langes Wochenende mieten. Der Preis (bei einer Nutzung von zehn Gästen, kostet das Bett pro Nacht nur etwa 70 Euro an Wochentagen) deckt nur den Unterhalt. Die typischen Kunden, darunter viele Stammgäste, «kommen aus London, arbeiten in der Kreativwirtschaft und feiern oft in dem Haus einen Geburtstag», erklärt Jenny, die für die Pflege dieses Juwels zuständig sein wird. Bis dahin düst sie mit ihrem Mini noch hin und her über die kurvigen Landstrassen und besorgt Glühbirnen und Wein.