Das öffentliche Licht

Manuel Pestalozzi
29. ottobre 2015
Kunstlicht-Kunst von James Turrell und geflutete Perrons: Die Nacht fällt über den Bahnhof Zug. Bild: Manuel Pestalozzi

Beim Raum sind die Abstufungen klar: je öffentlicher, desto umfassender das Aufenthaltsrecht, je privater, desto stärker die Einschränkungen und Bedingungen. Geht es um das Licht, so ist die Situation weitaus diffuser. Überhaupt: Wie soll man öffentliches Licht definieren? Nun, es wird jenes sein, das man als Gemeingut wahrnimmt. Oder anders ausgedrückt: jenes, das eine Einzelperson nicht ohne weiteres löschen kann.
 
Die Urquelle des öffentlichen Lichts sind natürlich die Himmelskörper und insbesondere die Sonne. Die Abgrenzung und die Lenkung von ihren Strahlen gehört seit je zu den Grundaufgaben der Architektur. Privatsphäre und ein schummriges Ambiente passen in vielen Lebenslagen perfekt zueinander. In Gemeinschaftsbereichen hätte man es häufig gerne etwas heller. Zu den baukulturellen Meisterleistungen der Wüstenvölker gehört deshalb die kunstvolle Dosierung des Sonnenlichts in öffentlichen Zonen, eine Wohltat für das leibliche Befinden und das ästhetische Gemüt.
 

Dosiertes Sonnenlicht in öffentlichen Räumen. So erlebte die französische Archäologin Jane Dieulafoy 1881 den Basar von Schiras in Persien. Bild: commons.wikimedia.org

Während die Architektur des Orients im Schutz vor dem Tageslicht Inspiration fand, strebte sie im nördlichen Europa danach, möglichst viel von ihm in private und noch mehr in öffentliche Räume eindringen zu lassen. Von der gotischen Kathedrale bis zur Passage des 19. Jahrhunderts gewährte man ihm möglichst freien Zugang – als könnte man gar nicht genug von ihm bekommen, als wären Schatten in der idealen Stadt möglichst zu vermeiden. Das Licht wird schliesslich in unserer kulturellen Tradition als etwas Sauberes, Hygienisches und Gesundes betrachtet.
 
Die Architektur der Moderne orientierte sich weitgehend an dieser Tradition, die in unseren Breiten bis heute gilt. Permanente Sonnenlicht-Verhinderer sind verpönt: So wird hierzulande der Schattenwurf bei Bauprojekten als Grundübel betrachtet, das möglichst keinen belästigen darf. Es macht den Eindruck, dass diese Haltung auch an Orte exportiert wird, an denen eine andere Sichtweise ratsam wäre. Wenn international tätige Büros fern der Heimat in der Wüste planen, wirkt ihr Umgang mit dem Sonnenlicht gerade im öffentlichen Raum oft unbeholfen und etwas grobschlächtig.

Promenade im Projekt Masdar City in den Vereinigten Emiraten. Horizontale Sonnenbrecher über den Dächern werfen ein Muster auf die Fussgängerzone. Bild: Foster and Partners

Das Sonnenlicht ist Allgemeingut, doch analog zum Fluglärm lässt es sich nicht gerecht über den Erdball verteilen. Deshalb ist der differenzierte Umgang mit ihm logisch und folgerichtig; wenn man das Zentralgestirn während Monaten nur sehr sporadisch zu Gesicht bekommt, will man es als kostenlosen Licht- und Wärmespender möglichst ausgiebig nutzen. Im Gegensatz zum Fluglärm sind wir von ihm ja als Lebensquell abhängig. Die Suche nach einer angemessenen Substitution beschäftigt die Gesellschaft seit Jahrtausenden und hat das öffentliche Licht um mannigfaltige Nuancen bereichert.
 
Versinkt die Erdoberfläche in ihren eigenen Schatten und fehlt der Schein des Monds, muss ein alternatives Licht her, will man Gemeinschaftsbereiche für einen angeregten sozialen Austausch nutzen. Die Beherrschung des Feuers als Licht- und Wärmespender stand am Anfang der kulturellen Entwicklung des Menschen, seine Anziehungskraft machte es zum Versammlungsort und somit auch zum Spender öffentlichen Lichts. Höhen-, Warn-, oder Freudenfeuer vermittelten ausserdem Signale und Botschaften von gesellschaftlicher Relevanz – schnell verwandelte sich ein beträchtlicher Anteil des nächtlichen öffentlichen Lichts in offizielles Licht, das von der Obrigkeit geregelt und kontrolliert wird.

Lanze, Horn und Laterne. In der Dunkelheit trugen einst Nachtwächter das offizielle Licht durch die Stadt. Es war mehr Signal als Erhellung. Bild: www.muensterlandzeitung.de

Das offizielle Licht ist deshalb ein zuverlässiges Kennzeichen in der Dunkelheit. Es wird organisiert, unterhalten und verwaltet. Und es löst eine Erwartungshaltung aus, sein Aufscheinen hat in manchen Situationen den Wert einer Erlösung. In baulicher Hinsicht fand das offizielle Licht primär in Leuchttürmen seinen Ausdruck, der Pharos von Alexandria gilt als das siebte Weltwunder der Antike.

Offizielles Licht wird konkurrenziert durch öffentliches Licht. Die Architektur des Pharos von Alexandria entspricht in diesem dramatischen Gemälde der gängigen Darstellung des siebten Weltwunders der Antike. Bild: monumentalloss.com

Erst ab dem 19. Jahrhundert wurden die einzelnen Lichtsignale in Städten ernsthaft miteinander verwoben. Gas- und später Stromnetze erlaubten es, viele Leuchtpunkte zu schaffen, die sich beim Einbruch der Dämmerung ohne grösseren Aufwand aktivieren liessen. Sie erhellten ihre unmittelbare Umgebung, schufen eine Abfolge von «Lichtpfützen», bildeten mit ihrem wenig weit reichenden Schein einen nächtlichen Archipel.
 
Der Wechsel von hellen und dunklen Bereichen prägt den Charakter des nächtlichen öffentlichen Raums von historischen Ortszentren eigentlich bis heute. Die Stadt zerfällt in der Nacht in Licht- und Schattenzonen. Für die Kunst ist das sehr anregend; urbane Geister- und Mordgeschichten sind in dieser Welt ebenso angesiedelt wie romantische Begegnungen, etwa mit Lili Marlen bei der Laterne. In der Malerei haben im Repertoire der Surrealisten das öffentliche und das offizielle Licht einen festen Platz.

Lichtpunkte im Nebel des viktorianischen London. Hollywood setzte die Atmosphäre der spärlich erleuchteten nächtlichen Grossstadt in den 1940er und 1950er-Jahren meisterhaft in Szene. Einzelbild aus dem Film «Gaslight» von Metro-Goldwyn-Mayer aus dem Jahr 1944. Bild: Turner Entertainment Co.

Die Inszenierung der nächtlichen Welt mit öffentlichem Licht begann mit der Erfindung des elektrischen Lichts in aller Ernsthaftigkeit. Auf einmal konnte man tausende von hellen Punkten aufs Mal mittels Schalter entflammen. Der Moment nahte, in dem auch die Welt der Architektur das öffentliche Kunstlicht als Gestaltungsmittel entdeckte und zu nutzen begann. Strahlung und Reflektion gewannen an Bedeutung, Monumente wurden ins Scheinwerferlicht gestellt.
 
Das offizielle nächtliche Licht der Laterne wurde ergänzt durch öffentliches Licht von Fassaden, Reklameinstallationen und sich bewegenden Fahrzeugen, oft in einem Wettstreit um den auffälligsten Schein, es wurde unübersehbar, dass die Stadt fortan nie mehr unter dem Zwang stand, sich schlafen zu legen. Der Strassenraum selbst verwandelte sich in ein fiebriges, chaotisches Ornament, dessen nervöses Flimmern sich leicht auf die Gemütslage der Passantinnen und Passanten übertragen liess.
 

New York by Night: Der einflussreiche, grausame Nachtleben-Kolumnist J.J. Hunsecker blickt auf sein Reich. Einzelbild aus dem Film «Sweet Smell of Success» aus dem Jahr 1957. Bild Metro-Goldwyn-Mayer Inc.

Heute ist das öffentliche Licht allgegenwärtig. Seine freie Verfügbarkeit hat da und dort zu veritablen Orgien geführt. Die berühmteste Lektion erteilte der Welt diesbezüglich Las Vegas, das sich in der Nacht zu einem gigantischen, vielfarbigen Lichtfleck in der Wüste verwandelt. Hierzulande griff die offizielle Seite bereits recht früh korrigierend ein; schon kleinere Projekte mit öffentlichem Licht sind bewilligungspflichtig. Niemand sollte glauben, man könne die Allgemeinheit nach Belieben blenden!
 
Doch auch so hat der nächtliche öffentliche Raum an vielen Stellen Abschied genommen von den trauten, geheimnisvolle Lücken hinterlassenden Lichtpfützen. Angesagt ist jetzt Flutlicht. Ursprünglich für das nächtliche Sportvergnügen konzipiert, füllt es, wenngleich in geringerer Intensität, ganze Platzflächen oder Strassenkorridore. In grosser Höhe angebrachte Strahler reduzieren Schattenzonen und packen die Welt unter ihnen in einen gleichmässigen, hellen Schleier.

Flutlicht leuchtet Flächen wie hier im Stade de Suisse in Bern lückenlos und kameragerecht aus. Der Himmel wird verdrängt, Schatten entfallen. Der Hypertag in der Nacht - ein Vorbild für den öffentlichen Raum? Bild: www.losingermarazzi.ch

Vermehrt sieht sich die Lichttechnik als Opfer ihres Erfolgs. Da und dort sagen die Leute: Es ist zuviel. Als neues Phänomen hat die «Lichtverschmutzung» Einzug ins Vokabular gefunden. Der Begriff gibt dem oft sinnlosen Wettstreit der nächtlichen Strahlen einen Namen und macht auf die Sorge um das Wohlergehen der lokalen Fauna und insbesondere der Vögel aufmerksam. Ausserdem fragen sich manche, ob das stete Ausleuchten grosser Flächen über vollständige Dunkelheitperioden nicht eine Vergeudung von Energie ist.
 
So lässt sich da und dort eine Trendwende in Bezug auf das öffentliche Licht feststellen. Von einer «Renaturierung», wie bei freigelegten Bächen, sollte man zwar nicht sprechen. Aber man möchte immerhin die Lichtintensität modulieren und bedarfsgerecht gestalten. So testen beispielsweise die Elektrizitätswerke des Kantons Zürich (EKZ) gemeinsam mit der Baudirektion des Kantons Zürich verkehrsabhängige, dynamische Beleuchtungssteuerungen. Sie versprechen reduzierte Lichtemissionen bei gleichbleibender Sicherheit. Die fliessende Lichtveränderung soll kaum wahrnehmbar sein, aber Stromeinsparungen von bis zu 30 Prozent möglich machen.

Die Öffentlichkeit hat es in der Hand, Lichtszenarien umzusetzen, die zu einer ausgewogenen, emotional befriedigenden Nachtlandschaft führen. Bild: EKZ

Der Anfang zu einem sachlichen, unaufgeregten Umgang mit dem öffentlichen Licht ist gemacht. Weniger ist mehr, sollte das Motto heissen. Ein Tieferlegen der Lichtquellen und ein höherer Indirektanteil würde mehr Anmut schaffen. Auch die Farbtemperatur, die beim öffentlichen Licht in den vergangenen Jahrzehnten nach subjektiver Betrachtung kontinuierlich gestiegen ist und den Zusammenhang von Licht und Wärme vielerorts auflöste, könnte sich gerne wieder senken.
 
Das Potenzial ist riesig, es steht schliesslich eine grosse Palette an Leuchtmitteln und umfassendes technisches Knowhow zur Verfügung. Der gelassene und souveräne Umgang mit dem öffentlichen Licht gäbe der Nacht ihre Würde zurück, der öffentliche Raum käme zu seiner Ruheperiode.

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