Architektur lesen

Jenny Keller
29. ottobre 2014
Der Ort, wo das Atomkraftwerk Kaiseraugst zu stehen gekommen wäre. Bild: Marcel Rickli

Natürlich interessiert uns eine Ausstellung über Architekturtexte, schliesslich schreiben wir selbst täglich welche und wollen, dass sie von unserem Publikum gelesen werden und damit in den Diskurs über Architektur eingehen, den wir als wichtig für unsere Gesellschaft und Umwelt erachten.
 
«Es besteht ein unglaubliches Ungleichgewicht zwischen der Wirkungskraft von Architektur und ihrer Repräsentation in den Medien», sagt Evelyn Steiner, die Kuratorin der Ausstellung «Textbau. Schweizer Architektur zur Diskussion» im Schweizerischen Architekturmuseum Basel, SAM. Dazu komme, dass die Architekturtheorie sowie die Verbindung von Baukunst und Literatur bereits ausführlich vermittelt und behandelt wurden, es aber bisher keine museale Auseinandersetzung mit dem Thema im deutschsprachigen Raum gegeben habe.
 
In Basel löst man das Thema so, dass anhand 15 ausgewählter Schweizer Bauten und Projekte der letzten 40 Jahre, die kontroverse Architekturdebatten ausgelöst haben, je zehn Texte ausgewählt worden sind, durch die die Architekturkritik genauer angeschaut wird. Beim Studium dieser Texte kann die Besucherin nachvollziehen, wie in der Schweiz in unterschiedlichen Medien wie Tagespresse, Fachpresse, Bücher, Radio, Blogs und Onlineportalen über Architektur gesprochen und geschrieben wird.

Dorferneuerung Vrin. Bild: Marcel Rickli

Unbequem und anspruchsvoll
«Es ist keine einfache Ausstellung», sagt Hubertus Adam. Sie haben sich nicht nur einmal gefragt, weshalb ein Museumsbesucher sich eine Ausstellung ansehen sollte, die derart textlastig sei. Insbesondere, weil auch die Leser von Fachzeitschriften sich zuerst einmal die Bilder anschauen. Doch das Bild war Thema bei einer vergangenen Ausstellung namens «Bildbau», deren Fortsetzung die aktuelle Ausstellung bildet. Diese sei ein Experiment, da den beiden Ausstellungsmachern kein Referenzbeispiel bekannt ist – und es sei mutig, einem Museumsbesucher so viel Text zuzumuten.
 
Pro Fallbeispiel fasst ein einleitender Text das Thema und die Debatte zusammen. In Heften, die auch nach Hause genommen werden können, sind dann die zehn ausgewählten Texte aus verschiedenen Medien wie Fach-, oder Tagespresse, Online-Medien, Print oder Radio abgedruckt. Zur Untermalung der anstrengenden Lesearbeit haben Holzer Kobler, die für die Szenographie zuständig sind, eine Art «unbequeme Lounge-Situation» geschaffen – in schwarz-weiss.
 
Ebenfalls schwarz-weiss sind die Fotografien von Marcel Rickli, der die besprochenen Orte heute atmosphärisch quasi als Bestandesaufnahme festgehalten hat. Insbesondere bei nicht verwirklichten Projekten wie dem Atomkraftwerk Kaiseraugst oder dem Nagelhaus in Zürich bilden diese Bilder eine Leerstelle, die durch die Abwesenheit eines Gebäudes umso mehr auf die beiliegenden Texte verweist, sodass man als Besucher wissen will, wie es zum Fall des Projekts gekommen ist.

Nagelhaus Zürich. Bild: Marcel Rickli

Keine Kritik ist auch eine Kritik
Auf die Frage, was denn passiert sei in der Architekturpublizistik der letzten 40 Jahre, sagt Hubertus Adam, dass man Tendenzen feststellen könne: Es gebe Hochphasen der Architekturkritik, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert betrieben wird, und die letzte Hochphase habe in den 1980er-Jahren begonnen, und zwar, weil dann ein neues Architekturverständnis sich etabliert habe; die Postmoderne habe es geschafft, die Architektur wieder als etwas Positives darzustellen. Davor war der Architekt derjenige, der das Land zubetonierte und Grossüberbauungen und Kaninchenställe für Menschen baute. Mit der Postmoderne wurden die Architekten wieder starfähig, was die Basis für die Architekturkritik verbreitert habe.
 
Zur Blüte der Architekturkritik habe sich jede Zeitung einen Architekturkritiker geleistet (der jetzt wieder gestrichen, oder nach seiner Pensionierung nicht ersetzt wurde). Die Veränderung der Medienlandschaft habe natürlich auch Auswirkungen auf die Architekturpresse: «Viele Fachzeitschriften haben eine Zweibeinstrategie: Es wird ein bisschen Online neben dem Print gemacht. Doch wir haben festgestellt, niemand hat eine klare Richtung dabei», sagt Hubertus Adam.
 
Man könne nicht sagen, dass ein Organ die Debatten anführe. Die Frage sei eher, wo überhaupt ernsthaft über Architektur diskutiert werde. Das Problem in der Schweiz sei, dass die Lokalteile der Zeitungen kein Interesse an einem fundierten Diskurs haben – es geht dort um die News und nicht um eine kritische Einordnung der Architektur. Eigentlich werde lediglich berichtet. «Die reduzierte Form von Kritik ist, nicht über etwas zu berichten», sagt Hubertus Adam und fasst damit die Schweizer Architekturkritik treffend zusammen.

La Congiunta. Bild: Marcel Rickli

Als Ergänzung zu den 15 Fallbeispielen wurden für die Ausstellung wichtige Protagonisten der Szene interviewt, darunter Inge Beckel als Vertreterin der Online-Medien. Diese akustischen Beiträge sind in einem Liegeraum zu hören und bilden den gemütlichen Teil der vielfältigen Ausstellung, die nicht nur reich an Textmaterial ist, sondern auch ein vielfältiges Rahmenprogramm hat. Zu erwähnen ist da insbesondere der Workshop für Architekten, an dem vermittelt wird, wie man Projekttexte gekonnt verfasst.

Link zur «Schreibwerkstatt Architekturkritik».

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