Wegweisend in vielerlei Hinsicht: Die Siedlung Rietholz
Elias Baumgarten
7. novembre 2024
Foto: Elias Baumgarten
Der neueste Band der Reihe swissmonographies widmet sich einer der ersten Plattenbausiedlungen der Schweiz. Die umfassende und zugleich prägnante Besprechung macht das Buch zum beglückenden Lesestoff.
«Wenn man das Glück hat, hier zu wohnen, dann bleibt man», sagt Beat Egli. Er wuchs in der Siedlung Rietholz auf und lebt noch heute dort. Dass er nie gehen wird, steht für ihn fest: «Selbst wenn ich eines Tages auf allen Vieren hoch und runter kriechen muss, dann bleibe ich auch noch da.» Wie er sehen es viele Menschen am Zollikerberg; Peter Vogel zum Beispiel, der mit seiner Frau und den Kindern mehrfach innerhalb der Wohnanlage umzog. Auch Neuankömmlinge sind schnell vom Rietholz begeistert: Für Monica Wildhaber etwa ist ihre Wohnung ein «Traum». Doch warum haben all diese Menschen ihre Plattenbauwohnungen so fest ins Herz geschlossen? Verständlich wird das, liest man das neue Buch zur Siedlung Rietholz aus der Reihe swissmonographies, in dem sie zu Wort kommen.
Foto: Elias Baumgarten
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Ich habe das Buch sehr gern gelesen: Miriam Stierle und Giulia Scotto schaffen es, auf noch nicht einmal 200 Seiten viele unterschiedliche Aspekte zu beleuchten und die architekturgeschichtliche Bedeutung der Plattenbauten zu verdeutlichen. Überrascht hat mich, wie modern und raffiniert die 300 Wohnungen gestaltet sind: Unterschiedlich geschnitten, eignen sie sich für die traditionelle Kernfamilie ebenso wie für Alleinstehende oder kinderlose Paare. Sogar Schaltzimmer, die je nach Bedarf zugemietet werden können, planten Annemarie Hubacher-Constam, ihr Mann Hans und Peter Issler bereits ein. So konnten Menschen wie Peter Vogel im Rietholz wohnen bleiben, auch wenn sie Kinder bekamen oder der Nachwuchs zu Hause auszog.
Monica Wildhaber meint ihrer Wohnung anzumerken, dass sie von einer Frau mitgestaltet wurde. Fest macht sie das unter anderem an den durchdachten Einbaumöbeln, die ihren Alltag erleichtern. Tatsächlich war Annemarie Hubacher-Constam im Büro Hubacher und Issler für die Entwürfe zuständig, während ihr Mann sich vor allem um die Akquise neuer Aufträge kümmerte. Mit dem Buch wird der Chefarchitektin der Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA) 1958 verdiente Aufmerksamkeit zuteil. Annemarie Hubacher-Constam war eine beeindruckende Persönlichkeit: In einer Zeit, da Frauen ohne die Erlaubnis ihres Vaters oder Ehemanns noch nicht einmal ein Bankkonto eröffnen durften, baute die dreifache Mutter zukunftsweisende Häuser. Miriam Stierle und Giulia Scotto lesen die verschiedenen Grundrisstypologien und die Berücksichtigung alternativer Wohnformen in der Siedlung Rietholz vor diesem Hintergrund als Beitrag zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse: «Dies war eine konkrete Möglichkeit, das Leben anderer Frauen zu verbessern. Diesen Vorsatz, der in der Wohnausstellung der SAFFA 1958 zum Tragen kam, führte Annemarie Hubacher bei der Planung der Wohnüberbauung Rietholz fort.» Gleichzeitig machen die Autorinnen deutlich, dass die Siedlung trotzdem zuvorderst für Familien mit der Mutter als Hausfrau gedacht war: Annemarie Hubacher-Constam steckte viel Energie in die ergonomische Gestaltung der Küchen, die sie mit Frauenfiguren zeichnete.
Foto: Elias Baumgarten
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Mit dem Buch gelingt nicht nur die umfassende Darstellung der Siedlung Rietholz und ihrer architektonischen Finessen. Es rückt auch Annemarie Hubacher-Constam zu Recht ins Rampenlicht. Mich regt die Lektüre zum Nachdenken über diese bemerkenswerte Architektin an. Sie soll gesagt haben, ihr Beruf sei der schönste. Diese Begeisterung und Positivität trotz höchster Belastung – sie füllte die Mutterrolle aus und war gleichzeitig die treibende Kraft im Büro – imponiert mir.
Doch nicht nur auf der Textebene überzeugt das Buch, auch visuell ist es ein Genuss: Teils noch nie gezeigte Pläne und Fotografien runden das Leseerlebnis ab und vervollständigt die Besprechung. In der von Harald R. Stühlinger herausgegebenen Reihe swissmonographies folgt der Band auf Bücher zu Luigi Snozzis Casa Kalman und dem Ensemble Chauderon des Büros AAA.