Museum mit zwei Inhalten

Susanna Koeberle
5. novembre 2020
Sigmund Freuds ehemaliges Behandlungszimmer (Foto: Hertha Hurnaus / Sigmund Freud Privatstiftung)

Sigmund Freud (1856–1939) gehört zweifellos zu den einflussreichsten Denkern des 20. Jahrhunderts. Seine Schriften, Theorien und Methoden entwickelte der österreichische Arzt, Psychoanalytiker und Theoretiker basierend auf den Erfahrungen mit seinen Patient*innen. Seine Schriften zeugen von der engen Verflechtung zwischen Theorie und Praxis. Die «Traumdeutung» etwa ist voller Erzählungen sowohl eigener Träume als auch jener der Menschen, die der Begründer der Psychoanalyse behandelte (Freud hatte übrigens vornehmlich weibliche Patienten). Die Bedeutung des Unbewussten für unser Seelenleben herauszuarbeiten, ist Freuds Verdienst – daran ändert auch alle Skepsis gegenüber seiner Lehre nichts. Seine These, dass der Mensch nicht «Herr im eigenen Haus» sei, hat gerade zurzeit besondere Aktualität. Was das Nicht-Kontrollieren-Können der Umstände mit uns macht, erleben wir angesichts der gegenwärtigen Pandemie. Auch die grauenhaften Attentate, die Wien gerade erschütterten, lassen uns sprachlos zurück. Wir sind solchen Ereignissen schutzlos ausgeliefert.

Das Wartezimmer von Freuds Praxis gibt am ehesten einen Eindruck von der Originalmöblierung. (Foto: Hertha Hurnaus / Sigmund Freud Privatstiftung)

Anlässlich meines Wienaufenthalts während der Vienna Design Week hatte ich Gelegenheit, das neu eröffnete Sigmund Freud Museum zu besuchen. Die Besichtigung des Ursprungsorts der Psychoanalyse war in vielerlei Hinsicht eine anregende Erfahrung. Sigmund Freud lebte beinahe ein halbes Jahrhundert an der Berggasse 19 im 9. Bezirk. In diesem Haus aus der Wiener Hochgründerzeit wohnte und arbeitete er mit seiner Familie (seiner Frau Martha, sechs Kindern und seiner Schwägerin Minna) von 1891 bis zu seiner Flucht ins Londoner Exil am 19. Juni 1938. Das ganze Hab und Gut der Familie wurde nach London verschifft – zurück blieben leere Räume. Ein Jahr nach seiner Flucht vor den Nationalsozialisten starb Sigmund Freud an den Folgen eines Gaumenkarzinoms, an dem er schon seit längerem litt. Seine jüngste Tochter Anna (1895–1982) liess sich zur Psychoanalytikerin ausbilden und vertrat später ihren kranken Vater (etwa an Kongressen). Sie wurde nach dessen Tod zur Doyenne der Psychoanalyse. Die Sigmund Freud-Gedenkstätte wurde 1971 in ihrem Beisein eröffnet. Ihre Aufgabe ist, Freuds Leben sowie sein vielschichtiges kulturelles Erbe (sein Werk und dessen Wirkungsgeschichte) zugänglich zu machen. 

2017 wurden mehrere Architekt*innen eingeladen, an einem Wettbewerb zur Sanierung des Museums teilzunehmen. Die Arbeitsgemeinschaft Czech/Angonese/ARTEC ging als Gewinnerin hervor. Der Entscheid gleich dreier Parteien sich zusammenzuschliessen ist ungewöhnlich. Czech und Angonese gehörten zu den geladenen Teams, wobei letzterer Bettina Götz und Richard Manahl (ARTEC) als lokale Partner miteinbezog. In der Wettbewerbsphase taten sich die Architekt*innen, die einander seit Jahren schätzen, zusammen und erstellten das Konzept für den Umbau gemeinsam. Bei der Entwurfsidee stand nicht die Gebäudesubstanz als solche im Vordergrund, sondern vielmehr die einmalige Geschichte der Nutzung des Hauses. «Diese Räume sind ein Museum ihrer selbst. Von der historischen Nutzung enthalten sie allerdings nur bauliche, teilweise verborgene Spuren. Diese authentischen Gedenkräume sind die Ursache und der zentrale Gegenstand der Intervention und zwar als Ambiente der historischen Personen, nicht primär als architektonische Substanz», formuliert Hermann Czech den Grundgedanken des Projekts. Der Umbau will keine Rekonstruktion oder Simulation des ursprünglichen Zustands vornehmen, sondern trennt zwischen sachlicher Information und konkretem Ortsbezug. Dieser Trennung wird auch im architektonischen Entwurf Ausdruck verliehen. In den «authentischen Räumen» werden Schichten teilweise fragmentarisch freigelegt. Bewusst belässt ein solches Vorgehen auch Leerstellen, schliesslich stehen diese Räume auch für die erzwungene Flucht der Freuds und damit für das Trauma der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft und des Holocaust. Vier Schwestern von Freud blieben in Wien zurück und wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Ausserhalb dieser Räume nahmen die Architekt*innen unterschiedliche Eingriffe vor, die sowohl der Organisation des Museumsbetriebs wie auch den Besucher*innen zugute kommen. 

Aussenansicht des Gebäudes an der Berggasse 19 mit dem Museumseingang (Rundbogen) und der reduzierten Gestaltung der anderen Öffnungen (Foto: Hertha Hurnaus / Sigmund Freud Privatstiftung)

Der Zugang zum Museum sowie der Rundgang durch die Ausstellung sind so gestaltet, dass eine Balance zwischen klarer Strukturierung und der Freiheit für individuelle Entdeckungstouren entsteht. Die Strassenfassade wurde im Bestand saniert. Ihre reduzierte Gestaltung schafft Klarheit. Der Museumseingang und das Café mit Kasse und Shop sind deutlich voneinander getrennt. Diese Einteilung wird durch die grosse Markise über Shop und Café unterstützt, welche die Besucher*innen zur Haustüre lenkt – dem eigentlichen Museumseingang. Durch diese gingen vor vielen Jahren sowohl Freud und seine Familie als auch die Patient*innen. Das Treppenhaus ist der besterhaltene Teil der historischen Substanz. Die beiden Wohnungen (mit zwei separaten Eingängen) wurden mehrmals umgestaltet, auch als die Familie Freud darin wohnte und tätig war. Denselben Weg nimmt man heute, wenn man das Museum besucht: eine Museumsvisite mit integrierter Therapiesitzung quasi. Es ist bemerkenswert, was räumliche Begehungen in unseren Köpfen und Körpern bewirken können. Kaum erstaunlich spricht man auch von Erinnerungsräumen (diesen Zusammenhang zeigt übrigens der französische Philosoph Gaston Bachelard in seinem Buch «Poetik des Raumes» sehr schön auf). 

Vitrinen im sogenannten Herrenzimmer (Foto: Hertha Hurnaus / Sigmund Freud Privatstiftung)

Die neue Erschliessungs- und Fluchtreppe führt Besucher*innen auf ihrem Weg durch das Museum wieder in das neu gestaltete Foyer. An den neuen Treppenwänden wird mittels einer Grafik die Geschichte des Hauses aufgezeigt. Innerhalb der Museumsräume kann man sich von eigenen Interessen und Vorlieben lenken lassen. Czech spricht in diesem Zusammenhang von einer «mental map», welche die Orientierung sowie eigenständige Rück- und Querwege begünstige. Durch den Umbau konnte die Ausstellungsfläche auf circa 550 Quadratmeter nahezu verdoppelt werden. Der wissenschaftlichen Information und Vermittlung dienen von den Architekt*innen entworfene Vitrinen, die originale Schriften und Dokumente enthalten. Das Design der Vitrinen erlaubt ein eingehendes Studieren der Exponate. Die Holzelemente, auf denen man sich dabei abstützen kann, sind funktional und formschön. Bewusst haben die Architekt*innen für diese Informationsschichten nicht die Wände benutzt, diese gehören nämlich in ihrem Konzept zur Ebene der «authentischen Räume». Auch Fotografien der Wohnung (wie etwa die 1938 aufgenommen Bilder von Edmund Engelman) sind separat auf an Notenständer erinnernden Trägern platziert. Auf diese Weise kommunizieren beide Ebenen (der Orts- und der Informationsaspekt), doch konkurrenzieren sich nicht gegenseitig. Die Eingriffe sind subtil, bewirken allerdings viel. Das Zusammenbringen von Vielschichtigkeit und Klarheit ist im Museumskontext alles andere als selbstverständlich. Es ist fast, als ob Freud ein Wörtchen mitgeredet hätte, so meisterhaft werden in dieser Gedenkstätte sachliche Inhalte und räumliche Präsenz miteinander verschränkt. Auch Räume haben manchmal verborgene Seiten.

Farbliche Akzente, Spiegel und die Thonet-Stühle von Hermann Czech (einst für das MAK Café entworfen) schaffen eine moderne Interpretation des Wiener Kaffeehauses. (Foto: Hertha Hurnaus / Sigmund Freud Privatstiftung)

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