«Die Kunst ist Teil meiner kreativen Arbeit»
Susanna Koeberle
31. agosto 2023
Roger Boltshauser baut, lehrt und forscht. Darüber hinaus ist er auch künstlerisch tätig. (Foto: Michael Arthur Koenig)
Roger Boltshauser steht in der Schweiz für das Bauen mit Lehm. Sein Büro baut aber bei weitem nicht nur mit diesem besonderen Material. Im Gespräch mit dem Architekten zeigt sich, wie vielfältig seine Interessen und Tätigkeitsfelder sind.
Herr Boltshauser, Sie wurden zwar mit Lehmbauten bekannt, bauen allerdings nicht ausschliesslich mit diesem Material. Stört Sie das Label des Lehmbauarchitekten?
Nein, denn ich bin stark um den Lehmbau bemüht. Diese Bauweise steht für eine nachhaltige Denkweise und für 25 Jahre Arbeit daran. Und nicht zuletzt auch für meine Brücke zur Kunst. Ich habe durch Lehm viel gelernt, meine Arbeit damit wurde mit der Zeit vielschichtiger. Lehm ist ein wichtiger Teil meines Kosmos. Es gab vielleicht eine Phase nach dem Haus Rauch, in der ich das Gefühl hatte, ich müsse mich als Architekt beweisen, der keinen Lehm einsetzt. Denn die Wahrnehmung dieses Baus fokussierte mehr auf das Material und weniger auf die entwerferische und kreative Leistung. Es ging dabei vergessen, was es bedeutet, das Material zum Klingen zu bringen. Andererseits ist diese klare Verortung meiner Arbeit ja nicht falsch. Als wir uns vor 25 Jahren um ökologisches Bauen bemühten, interessierte das die Architekturwelt noch kaum. Heute reden alle von Nachhaltigkeit und Klima. Wir haben sicher dazu beigetragen, dass Lehm und damit andere alte und vermeintlich «primitive» Materialien Teil der aktuellen Diskussion in der Architektur wurden.
Wie entstand Ihr Interesse für den Lehmbau?
Vor zwanzig Jahren entdeckte ich eine Lehmwand, die der Lehmspezialist Martin Rauch in Zürich realisiert hatte. Ich war begeistert von diesem Material und überlegte mir, wie ich es selbst verwenden könnte. Daraus entstand spontan der Entwurf für die Sport- und Freizeitanlage Sihlhölzli. Ich wusste damals nicht viel über nachhaltige Bauweise, ich bin über eine emotionale Faszination für das Material ins Thema eingestiegen. Bei der Vorbereitung für das Projekt fragte ich Martin Rauch um Rat. Was zunächst nicht möglich schien, konnten wir dennoch umsetzen. Dass ich an meiner ursprünglichen Idee festhielt, begeisterte ihn. Dies führte schliesslich zu einer sehr langen und fruchtbaren Zusammenarbeit.
Bei den Bauten für die Sport- und Freizeitanlage Sihlhölzli verwendete Roger Boltshauser erstmals Lehm. (Foto: Kuster Frey)
Was am Lehm hat bei Ihnen Begeisterung ausgelöst?
Vermutlich der Bezug zur Kunst. Ich habe schon als Teenager viel gezeichnet und gemalt und konnte mich lange nicht zwischen einem Kunst- oder Architekturstudium entscheiden. Ich erinnere mich gut an eine Ausstellung über Joseph Beuys im Kunsthaus Zürich, bei der mich besonders sein Zugang zum Thema Material faszinierte. Die Annäherung über die Kunst ermöglichte mir einen anderen Zugang zur Architektur; das hat mich schliesslich dazu bewogen, mein ETH-Studium abzuschliessen. Der künstlerische Hintergrund blieb bestehen. In dieser Zeit gab es zudem einige Architekten – etwa Peter Märkli, Jacques Herzog oder Adolf Krischanitz –, die künstlerisch tätig waren oder Brücken zwischen Kunst und Architektur schlugen.
Neuere Strömungen in der Philosophie stellen die Wirkmächtigkeit und Lebendigkeit von Materie in den Vordergrund. Können Sie diese Idee am Lehm nachvollziehen?
Ich sehe diese Kraft beim Lehm auf jeden Fall. Er verändert sich permanent und ist immer in Bewegung, dadurch bekommt er etwas Lebendiges. Man macht mit einem Material, das schon immer da war, etwas Neues, das in der Umsetzung zu etwas Zeitlosem wird. Es ist ein räumliches Material, das per se schon eine Tiefe hat. Dadurch ist man gezwungen, dicke Wände zu bauen, das verleiht den Bauten eine gewisse Kräftigkeit und Präsenz. Das Material hat also einen direkten Einfluss auf die Konstruktion. Genau das interessiert mich an alter Lehmarchitektur, wie man sie etwa in Marokko findet. Wenn ich dort durch Städte gehe, bin ich permanent inspiriert.
Auch in Ihrem Buch «Pisé – Stampflehm. Tradition und Potenzial» über historische Lehmarchitektur heben Sie diesen Aspekt hervor. Lieferte die Erforschung der Geschichte für Sie neue Erkenntnisse bezüglich der architektonischen Umsetzung?
Die sinnliche und künstlerische Faszination für das Material Lehm stand am Anfang. Doch wenn man damit etwas bauen will, geht es um die konstruktive Umsetzung. Das Material ist hierzulande weitgehend in Vergessenheit geraten. Um die Frage zu beantworten, wie man in Europa Lehmbauten dauerhaft umsetzen kann, habe ich mich deswegen mit historischen Beispielen auseinandergesetzt. Das geschah in einem ersten Schritt durch eine Publikation über den Lehmbau des französischen Architekten François Cointeraux (1740–1830), der in Lyon tätig war. Auf dieses Buch bezog sich auch Martin Rauch. Peu à peu analysierte ich diese Bauten und lernte dabei viel über die Bauweise und das Material.
Mit dem Haus Rauch wurde das Büro Boltshauser Architekten schlagartig bekannt. Das Projekt gewann viele Preise und wurde mehrfach publiziert. (Foto: Beat Bühler)
Wie kam es zum Wunsch nach Vertiefung dieser Materie?
Nach der Realisierung des Sihlhölzli-Projekts und vor allem mit dem Bau des Hauses Rauch wurden wir schnell bekannt und gewannen viele Preise. Beide Bauten waren jedoch eher kleinere Projekte und sie warfen die Frage auf, ob sich der Lehmbau skalieren lässt. Denn nebst der Sinnlichkeit kam plötzlich auch der Aspekt der Dauerhaftigkeit auf. Wir fragten uns, wie relevant diese Bauweise jenseits eines künstlerischen Ansatzes überhaupt ist. Das bewog mich dazu, zu untersuchen, welche Lehmbauten in unserem Kontext und unserem Klima bisher gebaut worden waren. Wir fragten uns, wie die Häuser von Cointeraux konstruiert waren. Dabei erkannten wir etwa, dass es schon bei diesen historischen Beispielen hybride Konstruktionen und eine Vorfabrikation der Lehm-Elemente gab.
Es ist bemerkenswert, dass diese Bauweisen entstanden, weil nach der Französischen Revolution in Lyon das Geld fehlte. Die Stadt war ein Widerstandsnest. Um Lehmbau relevant zu machen, muss man verstehen, wie solche Bauten entstehen. Und wie man diese Bauweise preisgünstiger, effizienter und dauerhaft machen kann. Die Antworten auf diese Fragen fanden wir unter anderem über das Erforschen alter Beispiele, die übrigens auch in der Schweiz existieren.
Wie gelangte die Lehmbauweise in die Schweiz?
Über die Textilindustrie: Ostschweizer Unternehmen kauften Textilien in Lyon, das früher ein Handelszentrum war. So kamen die Stampflehmbauten in die Ostschweiz. Als wir unser Mock-up-Projekt im Sitterwerk, einer früheren Textilfärberei, realisierten, nahmen wir auf diesen Fakt Bezug. Wir brachten den Lehm mehr oder weniger in die Ostschweiz zurück. Im Flachland haben wir ja überall lehmhaltige Böden. Das Material wird ausgehoben und auf Deponien gebracht, zum Teil sogar ins Ausland. Das kostet Geld und fossile Ressourcen. Im Kanton Zürich wird fast so viel Lehm für Bauvorhaben ausgehoben, wie wir neues Baumaterial in die Infrastrukturen einführen. Die Frage stellt sich, wie man diese Ressource besser nutzt, statt sie zu deponieren.
Das Projekt Mock-up wurde von Studierenden im Rahmen einer Summer School auf dem Areal des Sitterwerks St.Gallen gebaut. (Foto: Philip Heckhausen)
Um das Potenzial dieses Materials auszuschöpfen, haben Sie also in die Vergangenheit geschaut.
Ja, das Haus Rauch ist im Grunde gebaut wie vor 200 Jahren. Es ging und geht jetzt darum, diese Bauweise zukunftsfähig zu machen.
Während in vielen ärmeren Ländern Lehmbau bis heute verbreitet ist, ist eine solche handwerkliche Fertigungsmethode in unseren Breitengraden (noch) teuer. Wie beurteilen Sie die Chancen für eine günstigere Produktion und für eine grössere Verbreitung von solchen Lowtech-Methoden?
Das Potenzial diese Bauweise skalierbar zu machen, hängt unter anderem stark mit hybriden Bausystemen zusammen. Der Lehm kommt auch bei historischen Bauten oft in Kombination mit anderen Materialien vor, mit Holz oder Ziegeln etwa. Man kann den Lehm aber auch mit Stahl oder Beton kombinieren. Es gibt unzählige Anwendungsmöglichkeiten, es muss nicht immer eine tragende Stampflehmwand sein. Es geht jetzt darum, intelligente Hybridsysteme zu entwickeln. Wir starten gerade einen entsprechenden Forschungsantrag, bei dem mehrere ETH-Professuren involviert sind. Es gibt auch Ansätze mit Flüssiglehm, die in Richtung Betonersatz gehen.
Wir glauben, dass man mindestens dreissig Prozent des Massivbaus durch Lehmbauteile ersetzen könnte. Wenn das gelingen würde, wäre das ein unglaublicher Hebel. Dies mit einem Material, das lokal vorhanden ist und für das wir heute Geld zahlen, um es zu entsorgen. Ich bin überzeugt, dass man Lehm, in welcher Form auch immer, viel intelligenter verwenden kann. Wir stehen hier noch am Anfang. Lehm ist zurzeit auch deshalb zu teuer, weil andere Materialien zu günstig sind. Wenn man aber die Kosten über den gesamten Lebenszyklus inklusive Entsorgung mitkalkuliert, sieht die Bilanz von Lehm schon besser aus. Die Handarbeit macht Lehm ebenfalls teuer; da müssen wir Alternativen finden, damit das Material zahlbar und damit zugänglicher wird.
Wenn wir von den wirtschaftlichen Aspekten sprechen: Hinter dem Material Beton steht eine Lobby mit klaren Interessen. Wie stark muss man darum kämpfen, dass Lehmbau auch von Seiten der Industrie anerkannt wird?
Die Professur von Guillaume Habert, der an der ETH etwa den Flüssiglehm mitentwickelt hat, wurde dank der Unterstützung der Holcim Foundation geschaffen. Lehm kann durchaus ein Eins-zu-eins-Ersatz von Beton darstellen. Das wäre nicht gegen die Interessen einer Firma wie Holcim. Beton ist ja nicht per se des Teufels. Wir müssen aus meiner Sicht lediglich damit aufhören, Beton dort zu verwenden, wo er gar nicht erforderlich ist. Das Material Beton ist nicht das Problem, sondern seine unreflektierte Verwendung. Wir müssen ihn gezielter einsetzen.
Die wissenschaftliche Begleitung der Entwicklung des Ofenturms für das Ziegelei-Museum in Cham leistete einen Beitrag zur Erforschung des Stampflehmbaus. (Foto: Kuster Frey)
Hat die Verwendung von Lehm konstruktive Folgen?
Man muss definitiv anders entwerfen. Man kann nicht einfach einen Balkon an eine Lehmwand hängen, wie man es im Betonbau tun würde. Es sind formal ganz andere Themen. Ganz generell muss man bewusster und materialgerechter mit Baustoffen umgehen. Dann hat auch Lehm eine Chance.
Was ist bei diesen Bewusstseinsprozessen die Rolle der Architekt*innen?
Die ist sicherlich sehr wichtig. Es geht darum, bewusster zu bauen oder eben gar nicht zu bauen; oder mit zirkulären Strategien, neuen Materialien oder Systemen zu arbeiten. Es stellen sich beim nachhaltigen Bauen zahlreiche Fragen, und entsprechend entstehen viele neue Themen. Wir Architekt*innen sind gefordert, Alternativen und Visionen zu entwickeln. Diesbezüglich muss man auch die Schulen miteinbeziehen. Sie haben zum einen den Vorteil, forschen zu können, zum anderen haben wir dort die Möglichkeit, solche Themen in Semesteraufgaben durchzuspielen und visionäre Ideen zu entwickeln.
Viele unserer Projekte könnten ohne das Forschen an der Hochschule nicht entstehen. Ich würde sagen, heute sind alle enorm sensitiv. Auch Büros, die vor zehn Jahren nur in Beton gearbeitet haben, suchen nach Antworten. Die Architektenschaft ist eine sensible Gemeinschaft. Und man muss auch erwähnen, dass wir in der Schweiz gute Bauherrschaften haben. Es existiert eine hohe Baukultur. Gleichzeitig gehört der Schweizer Bausektor zu den zehn grössten CO2-Sündern weltweit. Wir haben eine Verantwortung, die wir wahrnehmen müssen.
Kunst und Bauen sind bei Roger Boltshauser nicht immer klar zu trennen. (Zeichnung: mit freundlicher Genehmigung des Künstlers)
Spüren Sie diese Entwicklungen auch an der ETH?
Ja, in den letzten fünf Jahren hat sich viel geändert. Es gibt heute keine Semesteraufgaben mehr, die sich nicht kritisch mit Klimafragen auseinandersetzen. Das geht so weit, dass kaum Neubauprojektaufgaben mehr gestellt werden. Die jungen Studierenden würden sich ihnen verweigern. Sie sind bei diesen Fragen viel weiter als wir, denn sie sind damit aufgewachsen. Und sie erwarten von uns, dass auch wir uns diesen Themen stellen. Heute ist die Ausbildung definitiv eine andere, und das ist auch gut so. Wichtig ist aber auch das Bewusstsein, dass ein guter Entwurf per se nachhaltig ist. Die ganzen Rechnereien befreien uns nicht von der Frage, was ein guter Entwurf ist; das müssen die Studierenden ebenfalls lernen. Wieso überleben bestimmte Bauten? Das hat auch mit räumlicher und sozialer Qualität zu tun, das darf man nicht vergessen. Wir kennen nicht alle Antworten, und das müssen wir aushalten. Ich empfinde die heutige Zeit als extrem anspruchsvoll und gleichzeitig als sehr inspirierend.
Rührt diese Offenheit für das Prozesshafte von Ihrer künstlerischen Tätigkeit her?
In der Kunst habe ich gelernt, dass neunzig Prozent, von dem, was ich produziere, Ausschuss ist – oder die Basis für den nächsten Ansatz. Ich interessiere mich beispielsweise für Überarbeitungen als künstlerische Strategie, das entspricht einem Denken in Schichten. Wenn ich so arbeite, ist das eine Never-ending-Story, ich bin immer auf der Suche. Das Kunstwerk ist Teil eines Prozesses, ich sehe Bauen auch so. Ich weiss, dass ich nie ankomme. Doch so habe ich das in der Architektur-Ausbildung nicht gelernt. Dort lernt man, klare Konzepte zu haben und Dinge auf den Punkt zu bringen. Ich hingegen fand immer, es gehe noch besser. Das Prozesshafte ist Teil der Kunst, Architektur hingegen ist rationaler und funktionaler. Für meine Arbeit als Architekt ist dieses Prozesshafte und Integrative zentral. Gerade Nachhaltigkeitsthemen erfordern in meinen Augen kollektives Arbeiten, das kann man nicht alleine bewältigen, es braucht Teamwork. Ich entwerfe, forsche und unterrichte prozessorientiert, nicht resultatorientiert.
Die Kunst ist also für Sie nicht von der Architektur getrennt?
Nein, das ist ein Organismus, das gehört alles zusammen, die Kunst ist Teil meiner kreativen Arbeit. Manchmal zeichne ich irgendetwas und habe keine Ahnung, ob es Teil der freien Arbeit oder der Architektur ist. Dann lasse ich es stehen und sehe später: Wow, das ist ja meine Fassade! Ich kann nicht immer genau einordnen, was ich mache.
Ein wesentlicher Aspekt des Konzepts für das neue Sportzentrum Zürich-Oerlikon liegt darin, neben der Minimierung des Energiebedarfs eine Maximierung der Energieproduktion und ein wärmetechnisch autarkes Gebilde mit geschlossenen Kreisläufen zu entwickeln. (Visualisierung: Boltshauser Architekten, Zürich)
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