Glückliche Fügung

Thomas Geuder
17. juillet 2013
Die neue Evangelische Grundschule in Karlsruhe besteht aus zwei Baukörpern, in denen sich (links) die Verwaltung, die Sporthalle und ein Spielfeld sowie (rechts) die Klassenzimmer mit Aula und Lehrhaus befinden. (Foto: Brigida González)

Viel zu oft leider ist man allzu schnell in der Beurteilung eines Gebäudes, oder genauer: in der Bewertung einer Entwurfsleistung. Städtebau, Kubatur, Wegeführung, Innenraum, Anmutung, Materialität vielleicht – Betrachtungen von Bauwerken gehen über diese Themen meist nicht hinaus. Geschuldet ist das fast immer der wenigen Zeit, die zum Anschauen und Rezensieren zur Verfügung steht. Gerecht aber wird das einem Bauwerk nur selten. Hinter der vordergründigen Ebene der Form verbirgt sich schliesslich die Ebene der Detaillierung, eine eigene Welt, die sich nur dem mit Zeit und Muse ausgestatteten Betrachter erschliesst. Der hingegen muss sich unerschrocken dem Detail widmen wollen, auch wenn andere diese Detailliebe schnell als kleinlich abstempeln könnten. Doch der forschende Blick hinter die Kulissen dessen, was zu allererst ins Auge sticht, lohnt meist: Welche Haptik besitzen die Materialien? Wie sind sie angeordnet? Wie fügen sie sich? Was ist wie befestigt? Wie werden die Kräfte weitergeleitet? Und warum hat sich der Architekt wohl für genau diese Lösung entschieden? Manch zu früh getroffenes Urteil über ein Gebäude wird bei näherer Betrachtung so noch einmal überdacht werden müssen. Das hat unser Otto Normalarchitekturliebhaber immer wieder feststellen müssen.

Die Aussenansicht prägend sind die geschosshohen Lamellen in verschiedenen Farben und Abständen. (Foto: Brigida González)

Architektonisch wie räumlich spannende Lösungen sieht man zum Beispiel immer wieder mit Stahlseilnetzen, die sehr flexibel verwend- und einsetzbar sind und dabei gleich mehrere Aufgaben erfüllen können: als Geländer, Fassade oder einfach nur zur Sicherung. Bekanntester Hersteller solcher Netze ist die Firma Carl Stahl aus Süssen bei Stuttgart, bei dem die Netze «X-TEND» heissen (von engl. extend, womit man auf die Flexibilität anspielen möchte) und die dazugehörigen Tragseilsysteme «I-SYS». X-TEND wurde bereits 1990 zusammen mit dem Stuttgarter Design- und Ingenieurbüro Officium entwickelt und ist heute in Gebäuden auf der ganzen Welt zu finden. Das System ist so simpel wie clever: Nebeneinander liegende Edelstahlseile werden in bestimmten Abständen (Maschenweite) durch Klemmen aus verzinntem Kupfer oder Edelstahl miteinander verbunden, wodurch ein Netz entsteht, das in jede beliebige Form gezogen werden kann. In Länge und Breite sind dem dabei keine Grenzen gesetzt, grössere Flächen entstehen durch nahtlosen Verbund einzelner Netzbahnen. Das Schöne dabei ist die Transparenz: Die Netze sind mit einer Maschenweite von bis zu 200x346 mm und einer Durchsichtigkeit von bis zu knapp 98 Prozent erhältlich. Ein Kinderkopf wird normalerweise mit einem Durchmesser von 120 mm angenommen, sodass die Maschenweite nicht grösser als diese 120 mm geplant werden sollte – weit genug, dass das Netz aus der Ferne betrachtet beinahe nicht mehr zu sehen ist. Spannend ist meist auch der aussergewöhnliche, offene Raumeindruck, der für manchen mit Höhenangst auch gewöhnungsbedürftig sein kann, wenn es wie etwa beim Aussichtsturm im Stuttgarter Höhenpark Killesberg oder dem Pegelturm in Bitterfeld direkt hinter dem Netz in die Tiefe geht. Die «Bauaufsichtliche Zulassung als Absturzsicherung» gewährleistet aber: Vor der Höhe oder der Gefahr abzustürzen, muss sich niemand fürchten.

Die Aula und jeweils ein Lernhaus pro Geschoss dahinter bilden den (quadratischen) Mittelpunkt im quadratischen Gebäude. (Foto: Brigida González)

Die Evangelische Grundschule mit Sporthalle in Karlsruhe wurde von Wulf Architekten aus Stuttgart nach dem Prinzip der Montessori-Pädagogik entworfen und erbaut. Charakteristisch für dieses Bildungskonzept, bei dem die Kinder zu «Baumeistern ihrer selbst» erzogen werden sollen, ist ein sogenanntes «Lernhaus», in dem offener Unterricht möglich ist und sich die Kinder aller Altersstufen treffen. Auch andere Erschliessungsbereiche können als Begegnungsorte genutzt werden, wie etwa die Aula, in der ein grosszügiges Podest aus See-Kiefer für Veranstaltungen zum Sitzmöbel umgebaut werden kann. Da im Innenraum der Schule nahezu alle Bereiche genutzt werden, befinden sich rings um das Gebäude Balkone, die als Fluchtweg dienen und ausserdem die Verbindung zum Freiraum verstärken, betont noch durch geschosshohe, farbige Lamellen aus Aluminium-Rechteckprofilen in verschiedenen Abständen. Die in diesem Projekt eingebauten Stahlseilnetze dienen vor allem als Brüstung im Aussen- wie im Innenbereich. Praktisch: So spart man sich aufwändige Geländekonstruktionen und die Kinder können trotz Barriere hindurchschauen. Keine ungewöhnliche Sache, könnte man sich denken. Dennoch: So ein Stahlseilnetz kann ganz unterschiedlich eingebaut werden, da das Netz eine leichte optische Richtung vorgibt. Bei dem Karlsruher Grundschulbau finden wir gleich drei Varianten: senkrecht, waagerecht und diagonal. Senkrecht angeordnet sind alle Netze, die sich in der Ebene der Brüstungen im Aussenraum befinden, wodurch die Vertikalität der Lamellen noch verstärkt wird. Diagonal angeordnet – wodurch sich ein liegendes Quadratraster ergibt – sind die Netze, die das Fussballfeld einrahmen. Waagerecht angeordnet sind sämtliche im Innenraum als Brüstung fungierenden Netze, was die Horizontalität der Geschosse hervorhebt. Die Netze im Innenraum korrespondieren zudem hervorragend mit dem Steigungsverhältnis der Treppen (siehe Bild).

Ebenfalls interessant wird es bei den Geländern des Treppenhauses sowie der Aussentreppen: Dienen die runden Anschraubklemmen normalerweise der Befestigung der Netz-Tragkonstruktion an feste Bauteile, ist es hier umgekehrt: Die Handläufe hängen direkt an der Netzkonstruktion, die wiederum an Decke und Boden bzw. an den Stirnseiten der Böden und Treppenläufe verankert ist. Hier wird aus einem normalerweise sekundären Bauteil quasi ein tragendes, das durch seine Transparenz zudem nichts an Eleganz einbüsst. Oder mit den Worten unseres Freundes Otto: Hier fügt sich ein simples und effizientes Produkt vielseitig und intelligent in einen Entwurf. Und das, obwohl es räumlich eigentlich gar nicht da sein will, das Netz.

Fein abgestimmt: Das Seilnetz als Geländerfüllung ist dem Verlauf des Geschosses wie auch der Treppensteigung und des Podests angepasst. (Foto: Wulf Architekten)
Trotz ihrer hohen Transparenz garantieren die Seilnetze Absturzsicherheit und der Raumeindruck wird nicht beeinflusst. (Foto: Wulf Architekten)
Einfach und pfiffig detailliert: Das Treppengeländer besteht aus einem über alle Stockwerke durchlaufenden Netz, an dem der Handlauf befestigt ist. (Foto: Wulf Architekten)
In der Fernansicht stört (fast) kein Geländer die vertikale Ausrichtung der Fassade. (Foto: Brigida González)
Lageplan
Grundriss Obergeschoss
Grundriss Erdgeschoss
So funktioniert X-TEND. (Quelle: Carl Stahl)
Die Seilnetze können in drei verschiedenen Richtungen eingebracht werden: horizontal, vertikal oder diagonal. (Foto: Carl Stahl)

Von zwei Seiten (Richtung Hauptgebäude) ist der Pausenhof im Obergeschoss, der als Spielfeld genutzt werden kann, mit den Lamellen ausgestattet. Die anderen beiden Seiten bestehen aus einer Aluminium-Fassade mit geschosshohen Fensterelementen. (Foto: Brigida González)
Die Sporthalle ist ca. 3 Meter tief in das Terrain eingegraben, sodass sich für die Kubaturen der beiden Gebäude keine Höhendifferenzen ergeben. (Foto: Brigida González)
Carl Stahl GmbH
Süssen, D

Hersteller-Kompetenz
X-TEND
I-SYS

Projekt
Evangelische Grundschule
Karlsruhe, CH

Architekt
Wulf Architekten
Stuttgart, D

Bauherr
Schulstiftung der Evangelischen Landeskirche in Baden
Karlsruhe, D

Fertigstellung
2013

Fotonachweis
Brigida González
Wulf Architekten
Carl Stahl GmbH

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