«Ziel ist es, sich einen Hintergrund zu erarbeiten, um später in der Berufspraxis daraus schöpfen zu können»

Daniela Meyer
18. décembre 2024
André Bideau im Foyer des Architekturdepartements der ETH, wo das Institut gta regelmässig Ausstellungen realisiert. Einige davon entstehen unter Mitwirkung der MAS-Studierenden, so auch im Herbst 2025. (Foto: Nadia Bendinelli)

Viele von uns dürften sich schon die Frage gestellt haben, ob und wie sie sich beruflich weiterbilden wollen. Eine Möglichkeit stellt ein universitäres MAS-Programm dar, wie es auch vom Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) an der ETH Zürich angeboten wird. Wem würdest du dieses Nachdiplomstudium empfehlen, André?

Ich kann den Studiengang nicht einer bestimmten Berufsgruppe empfehlen. Wir haben ein sehr breites Spektrum an Teilnehmenden, darunter auch Leute ohne Architektur-Hintergrund, die interessante Erfahrungen aus anderen Branchen mitbringen. Mir fallen da eine Theologin und eine Bankerin ein, Leute aus der Privatwirtschaft oder dem Designbereich, die sich auch Gedanken über Architektur und Stadtentwicklung machen. Einige unserer Teilnehmenden arbeiten auf einem Bauamt, in der Stadtplanung oder in einem Architekturbüro. Persönlich zählte ich damals zu denjenigen, die den berufsbegleitenden MAS direkt ans Architekturstudium anhängten, das gibt es ebenso. Im Nachhinein scheint es mir aber sinnvoller, zuerst ein paar Jahre Berufserfahrung zu sammeln.

Wesentlicher Bestandteil des Studiums ist die Masterarbeit, die im vierten Semester verfasst wird. Sollten die Teilnehmenden bereits im Vorfeld eine Idee haben, womit sie sich eingehend beschäftigen möchten? Oder gibt es andere Voraussetzungen, die sie erfüllen sollten?

Ja, ein Thema zu haben, das ist wichtig; das sprechen wir bereits beim ersten Gespräch im Semester an. Ich kann das Studium jeder Person empfehlen, die etwas hat, das sie im gebauten Raum beschäftigt, das sozusagen an ihr nagt. Das kann auch biografisch sein – eine Biografie haben alle. Manchmal ist diese beruflich bedingt, manchmal sehr persönlich. Das kann zum Beispiel ein besonderer Bezug zum Haus der Grossmutter sein oder zum Ort, an dem man aufgewachsen ist. Kürzlich setzte sich eine Teilnehmerin mit einer baulichen Verlusterfahrung auseinander, da sie in der Nähe eines legendären Sanatoriums aufgewachsen ist. Dieses ist über hundert Jahre nach und nach rückgebaut und zu einem Wellnesszentrum transformiert worden, und die Studentin hat dem Ort detektivisch nachgespürt. Daraus entstand eine Art Protokoll über die Thermalkultur Deutschlands, über mehrere politische Systeme hinweg.

André Bideau in seinem Büro an der ETH Hönggerberg. (Foto: Nadia Bendinelli)
Foto: Nadia Bendinelli
Foto: Nadia Bendinelli

Der MAS gta positioniert sich an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis. Wie stark ist der Praxisbezug und wo liegen seine Grenzen?

Es geht bei diesem Studium und der Masterarbeit weniger darum, eine Lösung zu entwickeln, sondern vielmehr um die Positionierung einem Thema gegenüber. Wir möchten dazu anregen, über aktuelle Herausforderungen nachzudenken, diese aber auch in einem historischen Kontext zu betrachten. Die Teilnehmenden sollen Problemstellungen kulturell situieren können und eine kritische und persönliche Sicht darauf entwickeln.

Wir beschäftigen uns mit gegenwärtigen Themen, die oft auch mit der Praxis der Teilnehmenden zu tun haben. Das Hauptseminar «Architektur und Stadt» berührt Fragen der Urbanisierung, des Zusammenlebens, der Mobilität, der Ressourcen und des baulichen Erbes. Auch die Masterarbeiten weisen vielfach einen Aktualitätsbezug auf. Ein Beispiel dafür ist die Arbeit von Lisa Henicz aus dem Jahr 2024, die sich mit einer Hamburger Synagoge beschäftigt, die seit ihrer Auslöschung eine Leerstelle im Stadtraum hinterlässt. Diese bauliche Lücke bot den Anlass, die Geschichte der jüdischen Gemeinde und ihre bauliche Präsenz in Hamburg zu untersuchen. Ziel der Auseinandersetzung mit dem eigenen Forschungsgegenstand ist es, sich eine Methode zu erarbeiten, die später auch bei der täglichen Arbeit zum Einsatz kommen kann. 

Auf diese Weise versteht die ETH generell ihre Nachdiplomstudiengänge: Diese sollen der Gesellschaft dienen und die Absolventinnen und Absolventen in ihrer Berufspraxis unterstützen. Darin liegt ein klarer Unterschied zu einem Doktoratsprogramm, das eher auf die spätere akademische Tätigkeit zugeschnitten ist.

Der MAS in Geschichte und Theorie der Architektur existiert seit 1993. Wie hat sich der Studiengang seither weiterentwickelt?

Die ersten zwanzig Jahre des MAS gta fokussierten mehr auf kunst- und architekturhistorische Themen als heute. Als Anne Kockelkorn und Susanne Schindler die Co-Leitung 2019 übernahmen, rückten sie gegenwärtige Themen stärker ins Zentrum, wie zum Beispiel den Wohnungsbau, Stadtumbau oder die Ökonomie der Architektur. Als ich im Herbst 2021 dazustiess, lautete unser erstes Semesterthema «Konstrukt Boden: Krise und Kritik» und beschäftigte sich mit der Nutzung von Land, mit damit verbundenen Projektionen und Idealisierungen. Zwei Jahre später setzten wir uns mit Steuern und deren räumlichen Implikationen auseinander, so etwa bei der Mehrwertabgabe. Im Rahmen solcher Themen mit Gegenwartsbezug studieren wir Fallbeispiele, hören uns Expertinnen und Experten an und begeben uns auf Exkursionen, die wiederum einen historischen Raum aufspannen.

Was sich wiederholt, sind Kollaborationen zwischen dem Studiengang und dem Archiv gta. Denn die dort aufbewahrten Architektennachlässe aus dem 19. und 20. Jahrhundert bilden einen überaus reichen Fundus. Sie werden oft zum Ausgangspunkt für eine Haus- oder Masterarbeit oder für eine gemeinsam erarbeitete Ausstellung.

Foto: Nadia Bendinelli

Schriftliche Arbeiten nehmen viel Raum ein in diesem Studium. Muss jemand das Handwerk des Schreibens beherrschen, um den MAS zu absolvieren?

Wir erleben es häufig, dass die Teilnehmenden gerne schreiben würden, dies aber noch nicht oft getan haben. Ihnen ein Instrumentarium dafür zu vermitteln, ist eine der Aufgaben des MAS. Die Methodenworkshops unter der Leitung von Susanne Hefti im ersten und zweiten Semester bestehen aus unterschiedlichen Schreibübungen. Zudem gibt es ein Kritiksemester, in dessen Rahmen kurze, pointierte Texte verfasst werden. Dabei wird auch die gezielte schriftliche Vermittlung erlernt: Wer ist die Leserschaft? Für welches Medium schreibe ich? So äusserten sich alle Teilnehmenden des Seminars «Steuern: Eine Architekturkritik» in einem Kurztext zum Zürcher Stadtteil Greencity. Diese Kritiken erscheinen derzeit als Serie bei der Zeitschrift TEC21.

Während einzelne Teilnehmende bereits im Journalismus tätig sind, gibt es andere, die nach Abschluss des MAS in die Vermittlung gehen und beispielsweise für ein Fachmagazin arbeiten. Viele wechseln aber auch zur Stadtplanung oder zur Denkmalpflege – oder kehren einfach zurück in ihr angestammtes Berufsfeld. Vom versierten Umgang mit Sprache profitieren dabei alle. Dies gilt ebenso für die kritische Reflexion in historischen Zusammenhängen, wie sie unser Studiengang ja vermitteln will.

 

André Bideau ist Architekturtheoretiker und -historiker. Er studierte Architektur an der ETH Zürich und absolvierte den ersten MAS-Studiengang des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur (gta), bevor er an der Universität Zürich promovierte. Von 1996 bis 2022 war er Redaktor der Zeitschrift werk, bauen+wohnen. Nebst verschiedenen Lehrtätigkeiten im In- und Ausland gründete er 2016 das ZAZ Bellerive mit und trat dort und anderswo als Kurator in Erscheinung. Heute lehrt er an der Accademia di architettura in Mendrisio und leitet das MAS-Programm des gta an der ETH Zürich.

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