Landesmuseum offen

Manuel Pestalozzi
1. août 2016
Bilder: Manuel Pestalozzi

Trotz Regen, grauem Himmel und tropisch feuchten Verhältnissen harrte die Menge am Sonntagabend geduldig vor dem neuen Eingang im einstigen Kunstgewerbeflügel des Gullbaus von 1898 aus, bis sie häppchenweise ins Innere vorgelassen wurde. Seit die Architekten Emanuel Christ und Christoph Gantenbein den Wettbewerb für die Erneuerung und Erweiterung des Landesmuseums hinter dem Hauptbahnhof Zürich gewonnen haben, sind etwas mehr als 14 Jahre vergangen. Swiss-Architects hat bereits im Januar dieses Jahres über die ersten Impressionen berichtet. Jenny Keller publizierte ausserdem einen Bericht über den Tuffbeton, der eigens für dieses ungewöhnliche Projekt entwickelt wurde. Sie zeichnete auch  verantwortlich für Konzept, Realisation, Redaktion und Projektleitung beim ersten Architekturbuch über die Erweiterung , mit Bildern von Roman Keller und Texten von Benedikt Loderer und Jenny Keller selbst.
 
Auf französisch heisst das Landesmuseum Musée National Suisse. Es ködert das Publikum also mit einem Eigenschaftswort, das mittlerweile hinterfragt wird oder sogar verpönt ist. Die Architektur von Christ & Gantenbein reagiert auf diese Gemütsverfassung mit einer schweren, mächtigen Tuffbefonskulptur, die in ihrem Ausdruck neutral wirkt und sich trotzdem eingliedern möchte – sie verhält sich eigentlich «echt schweizerisch» und trifft den vorherrschenden Zeitgeist nicht schlecht.

Nach der Begehung kommt man zum Fazit, dass das erneuerte und erweiterte Landesmuseum seinen ersten Eignungstest bestanden hat. Dies soll mit den folgenden Fotos vom 31. Juli dokumentiert werden. Die Raumsequenz hinter dem Foyer (Besuch der Garderoben im Untergeschoss nicht verpassen!) führt derzeit an die Ausstellung «Europa in der Renaissance» heran. Die verwinkelte Partie wird – wie wohl von den Architekten erhofft – geschickt zu dramaturgischen Zwecken genutzt.

Die sich ausweitende «Potemkinsche Treppe», die direkt zum Niveau des zweiten Obergeschosses führt, nimmt das Publikum offenbar willig in Angriff. Oben angekommen, darf es feststellen: Das Kuratorinnen- und Kuratoren-Team der Renaissance-Austellung hat die Steilvorlage der Architektur aufgenommen und verwertet. Die Möglichkeit einer freien Bespielbarkeit des Raumkontinuums wird überzeugend genutzt; Einbauten und Vitrinen beschreiben einen Parcours aus relativ engen Passagen und sich ausweitenden Sälen, in denen die Architektur einen diskreten Hintergrund bildet. Die Lichtregie wird fast völlig von der Ausstellungsinstallation bestimmt, die Bullaugen in den Wänden sind unauffällige optische Ruhepausen.

Es folgt beim Weiterschreiten die Galeriezone mit den Lichtöffnungen im Dach. Dort treten Tages- und Kunstlicht in einen gewissen Konflikt. Der Blick gleitet von der Galerie in etwas unbestimmte Tiefen des darunter liegenden Geschosses. Dieses erreicht man über ein seitliches Treppenhaus, das einen Blick in den Platzspitz-Park erlaubt und andeutet, dass die Renaissance Europas vorüber ist. In der Tat gelangt man in der ersten Etage in den Bereich Archäologie Schweiz. Es zeigt sich dort, dass man auch schräge Ebenen vorzüglich als Projektionsflächen für Animationen verwenden kann. Dieser Saal leitet direkt über in den Gullbau.

Wie es genau weitergeht (und wie man wieder ins Freie kommt), ist wie ehedem nicht sehr gut ersichtlich. Anscheinend wird von den Besucherinnen und Besuchern erwartet, dass sie auf dieser Ebene den ganzen Trakt des ursprünglichen Gebäudes durchschreiten. Aktuell trifft man dabei auf die  Ausstellung «Möbel & Räume Schweiz», in der ganze Intérieurs aus dem 20. Jahrhundert zu bewundern sind.

Am Schluss dieses Rundgangs führt ein schön gestalteter Treppenabgang wieder ins Eingangsfoyer. Unmittelbar davor widmet sich eine kleine Ausstellung der Planungs- und Bauphase der Erneuerung und der Erweiterung, mit Modellen, Materialproben und Baufotografien. Etwas bedauerlich ist es, dass der Werdegang des Projektes seit dem Wettbewerbssieg 2002 dabei keine Erwähnung findet. Sein Wandel ist nämlich beträchtlich, nicht nur in der Ausdehnung des Neubauteils, die zugunsten des Kunstgewerbetraktes reduziert wurde, sondern auch im formalen Vokabular. Im Internet sind nur noch wenige Modellfotos und eine Visualisierung des Wettbewerbsprojekts aufzufinden. Die Visualisierung stimmt fast etwas melancholisch. Denn sie zeigt einen verspielten Bau, der keck Motive des Gullbaus aufnimmt, uminterpretiert und die bestehende Silhouette ergänzt. Von der schweren, opulenten Monumentalität und dem fast festungsartigen Charakter, welche die realisierte Variante zum Platzspitzpark hin auszeichnet, ist nichts zu spüren.

Bild: Christ & Gantenbein, publiziert am 04.06.2010 vom Tages-Anzeiger.

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