«Taking Care»
Elias Baumgarten
4. juillet 2019
Foto: Elias Baumgarten
Seit über zehn Jahren bauen TAMassociati aus Italien Krankenhäuser in Afrika und dem Nahen Osten. Sie spannen dabei zusammen mit der Nichtregierungsorganisation Emergency. In einem lesenswerten Buch mit dem Titel «Taking Care. Architecture with Emergency» zeigen sie ihre besten Projekte und beziehen Position.
Über 70 Millionen Menschen waren im Jahr 2018 weltweit auf der Flucht, schätzt UNHCR (United Nations Commissioner for Refugees); ein trauriger Rekord. Die Gründe sind zahlreich: Krieg, Vertreibung, Verfolgung, Umweltkatastrophen und auch ökonomische Perspektivlosigkeit zählen zu den Hauptursachen. Viel wird seit der «Flüchtlingskrise» im Jahr 2015 in Europa über die Unterbringung von Flüchtlingen und deren Integration debattiert. Innerhalb der Architekturszene erreichte die Diskussion einen Höhepunkt mit der 15. Architekturbiennale von Venedig 2016. Gerade Deutschland und Österreich spielten das Thema mit ihren Beiträgen gross. Doch was geschieht eigentlich in den gebeutelten Herkunftsländern? Kann Architektur helfen, die Bedingungen dort zu verbessern, damit wieder eine Zukunftsperspektive vor Ort geboten wird? Schon seit über einer Dekade beschäftigt sich das italienische Büro TAMassociati mit dieser Frage und interveniert konkret. Gemeinsam mit der Nichtregierungsorganisation Emergency verwirklichten die Architekt*innen unter anderem schon zahlreiche Krankenhäuser in Afrika und Nahost. Das erste, das Salam Centre for Cardiac Surgery, wurde 2007 im Sudan gebaut. 2017 haben TAMassociati gemeinsam mit Francesca Serrazanetti ein Buch über ihre Projekte herausgebracht. Es ist beim italienischen Verlag Electa erschienen. Die ansprechend gestaltete Publikation ist 192 Seiten stark und steht wahlweise in italienischer oder englischer Sprache zur Verfügung. Sie gliedert sich in zwei Teile. Im ersten werden 11 Projekte präsentiert. Die zweite Hälfte befasst sich mit Methoden der Planung und Umsetzung. Damit soll eine griffige Hilfestellung für ähnliche Projekte gegeben werden.
Foto: Elias Baumgarten
«For us, architecture has to be built for people, always and in every context.»Wer sind TAMassociati?
Die Gründungspartner des Büros sind Massimo Lepore, Raul Pantaleo und Simone Sfriso. Später kamen Laura Candelpergher, Annamaria Draghetti sowie Enrico Vianello hinzu. Die Gründer haben sich 1985 an der Universität von Venedig erstmals getroffen. In den 1980er-Jahren brachten sie zunächst gemeinsam das Magazin «Utopica» heraus. Damals beschäftigten sie sich vor allem mit dem Thema Nachhaltigkeit. So schrieben sie ihren ersten Artikel über Windräder und deren Auswirkungen auf die Landschaft. Wenig später gründeten sie ihr Büro in Venedig. Mittlerweile sind Niederlassungen in Bologna, Triest und Paris hinzugekommen.
Besonders wichtig ist ihnen, Architektur gemeinsam mit den späteren Nutzer*innen zu entwickeln. Partizipative Prozesse spielen eine entsprechend grosse Rolle in ihrer Arbeit. Zudem sollen ihre Häuser regionale Traditionen respektieren und von örtlichen Arbeitskräften aus am Bauplatz vorhandenen Materialien errichtet werden. Dies hat idealistische, aber auch ganz pragmatische Gründe: Es dient der Nachhaltigkeit und soll die Baustellen zu Ausbildungsstätten für die Bevölkerung machen. Andererseits ergeben sich, wie die Architekt*innen in ihrem Buch einräumen, ökonomische und logistische Vorteile.
Foto: Elias Baumgarten
Hohe QualitätsansprücheTAMassociati sagen, schwierigste Bedingungen in Kriegsgebieten, raues Klima und kleine Budgets seien keine Hinderungsgründe für qualitätsvolle Architektur. Ihre Krankenhäuser sollen nicht nur pragmatisch funktionieren, sondern auch mit architektonischen Mitteln eine Atmosphäre erzeugen, welche die Genesung positiv beeinflusst. Das Team hat sich mit der Forschung von Roger Ulrich auseinandergesetzt und ist von der psychologischen Wirkkraft der Architektur überzeugt.
Inspiration finden die Architekt*innen indes bei Renzo Piano, mit dem sie gerade an einem gemeinsamen Projekt in Uganda am Ufer des Lake Victoria arbeiten, dem Centre of Excellence for Pediatric Surgery. An Gio Ponti interessiert sie besonders dessen Vorliebe für vernakuläre Architektur und an Giancarlo De Carlo dessen Arbeit für das Team Ten sowie sein Studium der afrikanischen Architektur und Kultur. Auch Charles Correa, Hassan Fathy und Pierre Vago nennen sie als Inspirationsquellen.
Foto: Elias Baumgarten
Viel aus wenigDoch wie werden diese Ansprüche in den Projekten verwirklicht? Ein interessantes Beispiel ist das Salam Centre for Cardiac Surgery (2007). Als der Bau entstand, litt der Sudan seit Jahrzehnten unter einem blutigen Bürgerkrieg. Das Grundstück befindet sich 20 Kilometer von Khartum, der Hauptstadt des Landes, entfernt am Ufer des Nil. In der Region herrschen oft Temperaturen über 40°C, mitunter steigt das Quecksilber gar auf über 50°C. Oft gibt es Stürme, die Sand und Staub durch jede Ritze pressen. Wie sollten die sensiblen Innenräume in dieser Umgebung geschützt und richtig temperiert werden (Operationssälen sollten maximal 20°C kühl sein)? Geld für aufwendige Filteranlagen stand nicht zur Verfügung. TAMassociati entwickelten daher eine Konstruktion aus vorgefertigten Stahlrahmen und einem zweischaligen Mauerwerk von gesamthaft 58 Zentimetern Stärke. Die Zuluft wird durch labyrinthartige Strukturen geführt. So verlangsamt sich ihre Strömungsgeschwindigkeit und die meisten Sandkörner und Staubpartikel setzen sich ab. Schliesslich gelangt sie durch Zerstäuberdüsen mit Nilwasser gekühlt ins Gebäudeinnere. Die Energie für die Kühlung wird über eine Solaranlage bezogen, die 3'600 kWh pro Tag produziert. Zwei grosse Wärmetauscher bringen das Kühlwasser auf 7°C.
Und gestalterisch? Die eingeschossigen Pavillonbauten der Anlage erstrahlen in Weiss mit roten Akzenten. Ihre Formensprache passt zum obig erwähnten Referenzraum von TAMassociati. Regionale Baukultur wird zum Beispiel durch die Verwendung textiler Screens zum Wind- und Sonnenschutz aufgegriffen. Befestigt sind diese an filigranen weissen Stahlkonstruktionen.
Transparent machen TAMassociati im Buch übrigens sämtliche Baukosten. Am Ende können diese für jedes Projekt nachgelesen werden. Sie liegen zwischen 100'000 Euro und 11 Millionen.
Taking Care. Architecture with Emergency
TAMassociati mit Francesca Serrazanetti
170 x 240 mm
192 Pages
ISBN 9788891813251
Electa
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