Leuchtturm-Ismus
Manuel Pestalozzi
13. septembre 2018
Betrachtet man die Titel der drei Ausgaben, so scheint die Botschaft oder zumindest der Schwerpunkt dieses Buches in jeder Sprache etwas anders gelagert zu sein. Bild: Website park-books.com
Weit strahlt der genossenschaftliche Wohnungsbau Zürichs in die Welt. Ein neues Buch stellt nicht weniger als 51 Projekte vor und macht aus den Aktivitäten in der Limmatstadt eine Art neuen «Ismus».
Viel wurde in den vergangenen zwanzig ungrad Jahren über das Bauen in der Stadt Zürich publiziert. Auch kamen etliche Bücher auf den Markt. «Wohngenossenschaften in Zürich» von Park Books ist sicher nicht das ultimative Werk über die jüngere Entwicklung der Wohngenossenschaften in Zürich oder den Wohnungsbau in der Limmatstadt. Zahlreich sind ja noch immer die Projekte, die erst angedacht, in Planung oder im Bau sind. Aber es ist ein bedeutender Zwischenbericht. Er zeigt, dass sich Zürich als politische Einheit über diese Bautätigkeit nicht nur profilieren möchte, sondern auch wünscht, die vollbrachten Taten der Welt als nachahmenswertes Beispiel zu präsentieren. Man kann leicht überspitzt von einem geradezu missionarischen Eifer sprechen, mit dem die Wohltaten dieser Tätigkeit der Welt verkündet werden. Wohl auch deshalb erschien es gleichzeitig in den Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch
Es handelt sich um ein Buch, das der Rezensionsprofi instinktiv von hinten öffnete. Dann findet man zuerst beim Impressum eine lange Danksagung und ein Raster mit Logos. Das Gewinnstreben und die Profitsucht bleiben selbst in diesem Hintergrundbereich des Buchs völlig abwesend. Die Genossenschaften sind schliesslich gemeinnützig, die finanzielle Unterstützung kam von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, der Stadt Zürich und den Wohnbaugenossenschaften selbst. Jede Spur von Kapitalismus fehlt, auch wenn namhafte Generalunternehmungen an diesen Projekten mitgearbeitet und -verdient haben. Umso heller leuchtet in dieser Zürcher Bau-Bibel der Stern der akademisch geschulten, genügsamen Expertinnen und Experten, welche die Weiterentwicklung des Genossenschaftsgedankens und der gemeinnützigen Wohngelegenheiten aufgegleist und der Entwicklung eine «gute» Richtung gegeben haben.
Auftakt am Stadtrand. Das Projekt Mattenhof in Zürich-Schwamendingen gehört im Buch in die Kategorie «Neue Nachbarschaften». Bild: Dominique Boudet
Vielstimmiger Chor
Wenn diese Rezension im Titel auf die Entstehung eines neuen «Ismus» spekuliert, so soll das cum grano salis absorbiert werden. Die «Ismen» sind Angelegenheiten des 19. und 20. Jahrhunderts, wir leben im Zeitalter der «Ionen», die je nachdem unterstützt oder zu bekämpft werden sollen. Heute gibt es keine Stile mehr, welche eine politische oder philosophische Haltung verkörpern, eigentlich ist alles möglich – solange die geltenden «Reglementationen» befolgt werden. Dieser Zustand im Zürich der Gegenwart wird nicht nur durch die Vielseitigkeit der präsentierten Architektur evident, sie widerspiegelt sich auch in den Beiträgen, welche im Buch den Hintergrund der genossenschaftlichen Wohnbautätigkeit in der Stadt erläutern.
Ein kluger Schachzug war die Wahl des Herausgebers. Dominique Boudet ist ein französischer Architekturkritiker, Kurator und Schriftsteller, der die Ereignisse in Zürich mit einer gesunden Distanz zum Geschehen betrachtet hat und auch zahlreiche Fotographien beisteuerte. Dass in der Stadt Zürich altehrwürdige Institutionen wie die klassischen Baugenossenschaften eine «Renaissance» erleben konnten, überraschte ihn offenbar, im positiven Sinn, natürlich. In Essays versuchen sich diverse Autorinnen und Autoren an einer Erklärung, wie es zu dieser Renaissance kommen konnte. Die Kunsthistorikerin, zwei Architekturjournalisten, der Städtebauhistoriker, weitere Architektinnen und der Architekt und Genossenschaftsspezialist Andreas Hofer – alle leiten sie die aktuellen Ereignisse her. Patrick Gmür, Architekt und ehemaliger Leiter des Amtes für Städtebau, und Peter Ess, Architekt und ehemaliger Direktor des Amtes für Hochbauten, stellen sich den teilweise durchaus auch kritischen Fragen Boudets. Es ergibt sich ein vielstimmiger Chor von Mitteilungen und Erläuterungen, deren Konsonanz die zustimmende Haltung zum nicht kommerziellen Wohnbauwesen bildet.
Die Überbauung Im Sydefädeli zählt das Buch zur «Parkstadt». Bild: Dominique Boudet
Klassifizierung
Anhand von 51 Projekten präsentiert das Buch «Städtebauliche Strategien im Wandel». Schon dieser Titel würdigt die Vielfalt der Bauvorhaben und Lösungen, welche die jüngeren Vorhaben der Wohnbaugenosschenschaften prägt. Eine Karte zeigt die Standorte, die sich vor allem an der westlichen und nördlichen Peripherie befinden. Zwei Projekte stehen übrigens jenseits der Stadtgrenze: der Glattpark in Opfikon und Zwicky-Süd in Dübendorf.
Die verschiedenen Strategien führten zu einer Klassifizierung der Projekte in die Kategorien Verdichtung, Parkstadt, Grossform, Bestätigung der Strasse, Häuserblock, Neue Nachbarschaften und «Neue Ziele: Durchmischung, Verschiedenheit, Urbanität». Die Begriffe werden auch erläutert. So wird beispielsweise unterstrichen, dass sich die Parkstadt konzeptionell von der Gartenstadt unterscheidet durch den Stellenwert des Grünbreichs, seine Beziehung zum bebauten Teil einer Siedlung. Während bei der Gartenstadt «keine spezielle Beziehung zu den Bauten» bestehe, sei der Grünraum in der Parkstadt mit der überbauten Fläche verflochten. Das Buch erkennt hier eine neue Typologie. Die Grossform besitzt «weder eine spezifische Typologie noch eine bestimmte Morphologie», sie zeichnet sich durch ihre Grösse aus und «löst in letzter Zeit häufig widersprüchliche und schwierige städtebauliche Situationen». In dieser Kategorie wird auch die Siedlung Grünwald, der gescheiterte «Ringling», präsentiert. Die Projekte sind mit einer Kurzbeschreibung, Fotos oder Visualisierungen, einer Tafel mit den Beteiligten und einem Zeitplan sowie mit zwei bis vier Plänen dokumentiert.
Der Ersatz der Stammsiedlung des «Sunnige Hof» an der Else-Züblin-Strasse gehört in die Kategorie Verdichtung. Bild: Dominique Boudet
Warten auf die Wirkung
Die klassische Wohnbaugenossenschaft arbeitete im frühen 20. Jahrhunderts mit an der Schaffung des «neuen Menschen» der arbeitsteiligen Industriegesellschaft, der mithin durch sein Wohnumfeld gegenwarts- und zukunftstauglich wird. Eine verwandte, der Gegenwart angepasste Zielsetzung ist teilweise auch bei den aktuellen Projekten in Zürich präsent. Im Buch wird sie in der Kategorie «Neue Ziele» abgehandelt, durch Projekte wie Kalkbreite oder das Hunziker-Areal. Sie erhalten mehr Raum und werden durch zusätzliche Essays begleitet. Das Kapitel bietet gewissermassen den Schlusspunkt des Buches, der auch als Ausblick zu interpretieren ist: So wird das «richtige» Zusammenleben in den kommenden Jahrzehnten gepflegt – wenn alles gutgeht.
An dieser Stelle beginnt man sich als Leser zu fragen, ob die ganze «Neuerfindung» Zürichs als Wohnstätte nicht doch leidlich paternalistisch (von mir aus: maternalistisch) daher kommt. Zwar werden bei jeder Gelegenheit die Möglichkeiten der Mitbestimmung betont, letztlich entsteht aber doch der Eindruck, dass strenge Expertinnen und Experten das Heft fest in der Hand haben. Vielleicht wäre es gut gewesen, wenn im Buch Mitglieder der Genossenschaften in der einen oder anderen Form zu Wort gekommen wären. Eine grosse und für den Rezensenten offene Frage ist jene nach dem Typ Mensch, der in diesen tollen Anlagen lebt. Für wen genau wird da eigentlich gebaut? Bei allem Lob für die angestrebte Vielseitigkeit, wäre es doch wünschbar, wenn diese Leute eine schärfere Kontur erhielten. Das Buch erfüllt diesen Wunsch nicht. Doch vermutlich ist es einfach zu früh, sich zur Wirkung dieser jungen architektonischen Werke zu äussern. So hofft man eigentlich auf das Versprechen, diesem Druckwerk einen Folgeband zu widmen.
Keine Experimente am Katzenbach. Hier ging es um Ersatzneubauten – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Bild: Dominique Boudet
Wohngenossenschaften in Zürich
Gartenstädte und neue Nachbarschaften
Herausgegeben von Dominique Boudet. Mit Beiträgen von Dominique Boudet, Sylvia Claus, Irina Davidovici, Daniel Kurz, Caspar Schärer und Axel Simon sowie Interviews mit Peter Ess und Patrick Gmür
256 Seiten, 394 farbige und 281 sw Abbildungen und Pläne
Broschiert 24 x 30 cm
CHF 69.00 | EUR 68.00
ISBN 978-3-03860-041-1
Park Books