Kulissen des Alltags? / gesehen

Inge Beckel
15. septembre 2011
NYC 2007 (Bild: Olivo Barbieri Courtesy Yancey Richardson Gallery New York)

Wie es in der Einleitung zur Ausstellung über die Hochhäuser heisst, wurden weltweit etwa die Hälfte davon erst in den letzten zehn Jahren gebaut, also im frühen 21. Jahrhundert – womit dieser Bautyp nun endgültig im modernen Alltag rund um den Globus angekommen zu sein scheint. So gab es beispielsweise im Jemen des 16. Jahrhunderts bereits Bauten aus Holz und Lehm von bis zu 30 Metern Höhe mit neun Stockwerken. Im Westen aber erhielt dieser Bautyp erst im 19. Jahrhundert richtig Auftrieb – einmal dank einer Erfindung von Elisha Otis 1854 im Liftbau und weiter durch die Entwicklung des Skelettbaus. Nunmehr wurden die Bauten wirklich hoch – und begannen sinngemäss am Himmel zu kratzen. Bekanntes Beispiel aus dieser Zeit ist das von William Le Baron Jenney entworfene 42 Meter hohe Home Insurance Building in Chicago von 1885, das als einer der ersten Wolkenkratzer gilt.

Baumeisterhaus mit Wagnerei von 1864 an der Waffenplatzstrasse 30 in Zürich (Bild: Amt für Städtebau, Baugeschichtliches Archiv um 1910)

Die Ausstellung im Zürcher Museum für Gestaltung hat weltweit einige Schwerpunktorte oder Fallstudien ausgesucht, wo jeweils bekannte oder weniger bekannte Typen dargelegt und in grossen Bildern gezeigt werden, gebaute und noch nicht gebaute: so in Shanghai, Hongkong, New York, London und Zürich. Und wie die Ausstellung festhält, liegt ein Grund des Baubooms vor allem in Asien ganz pragmatisch im ökonomisch-demografischen Druck der betroffenen Ballungsräume. Denn dort gilt es, für eine schnell wachsende Bevölkerung möglichst günstig und platzsparend ausreichend Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Nicht so in der Schweiz, halten die Verantwortlichen weiter fest, wo das Hochhaus nach wie vor ein ausgezeichneter, damit spezieller Bautypus ist, sei es als Zeichen eines Konzerns – man denke an die Diskussionen um den Roche-Turm von Herzog & de Meuron in Basel, der in der Ausstellung nicht vertreten ist – oder als gehobene Wohnform. So wirbt die Homepage des Zürcher Mobimo Tower für die 53 Appartements als «Logenplätze» hoch über der Stadt und als «Privileg ganz Weniger».

Die Baumeisterhäuser
Ganz anders die Ausstellung im Haus zum Rech. Dort geht es um Baumeisterhäuser genannte Bauten, die vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl auf Stadtgebiet wie in den damaligen Vorortgemeinden sozusagen wie Pilze im Herbst aus dem Boden schossen. Für Zürich war dies die Zeit, als sehr schnell ganz viel Wohnraum gebaut werden musste, wuchs doch die Bevölkerung in und um die Stadt explosionsartig: Zählte beispielsweise Wollishofen 1831 noch 823 Personen, waren es rund 60 Jahre später 2413, während Aussersihl zwischen 1833 und 1894 von 955 Einwohner und Einwohnerinnen auf 30'248 anschwoll, also rund auf das Dreissigfache!

Impressionen aus der Ausstellung im Haus zum Rech (Bild: Amt für Städtebau)

Damals musste also hierzulande gebaut werden, schnell, günstig und möglichst flexibel, ohne dass die Bewohnerschaft vorher bekannt gewesen wäre. Baumeisterhäuser sind Bauten, die in der Regel kein bekannter, sicherlich jedoch kein akademisch gebildeter Architekt entworfen hat, vielmehr waren es die Handwerker selbst, die diese Bauvorhaben aus eigener Initiative an die Hand nahmen, teils auch zu spekulativen Zwecken. Es handelt sich dabei um frei stehende, meist dreigeschossige Bauten in Massivbauweise mit ausgebautem Dachgeschoss und Lochfassade; das Erdgeschoss wurde – und wird teilweise noch – als Laden oder Beiz betrieben. Wie bei den Blockrandbauten mischen sich Nutzungen wie Bewohnerschaft, und da die Häuser grundsätzlich an die Strasse grenzen und auf diese ausgerichtet sind, tragen sie zur Belebung der entsprechenden Gassen und Quartiere bei – Jane Jacobs hätte wohl ihre Freude an den Baumeisterhäusern gehabt.

Diese Gebäude kommen jedoch zusehends unter Druck, vor allem deshalb, weil die Parzellen der inzwischen zentral gelegenen Grundstücke nach heutigem Recht unternutzt sind; Auslöser der städtischen Ausstellung war denn auch konkret der Abbruch des ehemaligen Hauses Schmuklerski im Kreis 4. Die Wohnqualität der Baumeisterhäuser demgegenüber wurde in den knapp 150 Jahren ihres Bestehens kaum geschmälert, wie eine Auswertung von zwei bestehenden, teils sanierten Beispielen nachweist. Doch konnten die Ausstellungsmacher und -macherinnen dadurch, dass in den vergangenen Jahren zahlreiche Baumeisterhäuser geschliffen wurden, auf Originalsubstanz zurückgreifen. So sind in der schön gestalteten, äusserst sehenswerten Schau originale Fenster, ganze Türen, Türgriffe oder auch Wand- und Bodenkacheln zu sehen.

Baueingabepläne von 1869 für ein Baumeisterhaus in Riesbach (Bild: Pläne, Stadtarchiv Zürich)

Ein zentraler Moment für den Bauboom des 19. Jahrhunderts war die neue Kantonsverfassung von 1831, die allen Einwohnern des Kantons die Niederlassungs- sowie Handels- und Gewerbefreiheit garantierte. Städteabaulich folgte die Schleifung der Befestigungen rund um die derzeitige Innenstadt, die das Stadtgebiet immens vergrösserte. – Heute erlebt Zürich erneut einen Bauboom, nicht zuletzt infolge des Beitritts der Schweiz zum Schengenraum. Dennoch halten die Verantwortlichen der Stadtzürcher Ausstellung fest, zahlenmässig sei dieses Wachstum gering, hat die Stadtbevölkerung doch – nach mehr als drei Jahrzehnten des Bevölkerungsrückgangs – zwischen 1998 und 2008 um 0,6% zugenommen. Dass Zürich aber in der Wahrnehmung derzeit stark wächst, hat demnach wohl mehr mit dem Lebensstandard von heute und unserer Mobilität zu tun, denn es ist hinlänglich bekannt, dass der Flächenverbrauch pro Person seit Jahren wächst.

Weiterführende Informationen:

Zürcher Baumeisterhäuser. Zeugen einer wachsenden Stadt

noch bis zum 18. November 2011
Haus zum Rech, Neumarkt 4, Zürich
Öffnungszeiten: 
Montag bis Freitag 8-18 Uhr
Samstag 10-16 Uhr

Hochhaus. Wunsch und Wirklicheit

noch zum zum 2. Januar 2012
Museum für Gestaltung Zürich, Ausstellungsstrasse 60
Öffnungszeiten: 
Dienstag bis Sonntag 10–17 Uhr

Mittwoch 10–20 Uhr

- Zum Bautypus der «Baumeisterhäuser» vgl. auch
Hanspeter Rebsamen, Inventar der neueren Schweizer Architektur 1850–1920 (INSA), Band 10
(obwohl der Begriff dort so nicht geführt wird.)

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