Braucht man eine Ingenieurbautheorie?

Ursula Baus
4. juillet 2013
Endlich Sommer- und damit Wanderzeit: Seit dem Wochenende erschliesst ein neuer Wanderweg in Flims ein Stück Bergwelt.

Die Baukunst ist unteilbar  
Zu den vernünftigen Grundsätzen, denen beispielsweise das Ingenieurbüro Schlaich Bergermann und Partner folgt, gehört die These seines Gründungspartners Jörg Schlaich, dass die Baukunst unteilbar sei (1). Sie leuchtet insofern ein, als dass Menschen mit allem konfrontiert sind, was gebaut wird – egal, ob von einem mediokren Architekten, einem genialen Ingenieur oder einem dilettierenden Handwerker. Aus dem Blickwinkel der Nutzer betrachtet, zählt eben das Ergebnis: das Gebaute, das Benutzbare, das Abscheuliche und das Erfreuliche. Aus aktuellem Anlass ist dieser Magazinbeitrag mit Aufnahmen des «Trutg dil Flem» illustriert, eines neu angelegten Wanderweges in Flims, der am Wochenende (22. Juni 2013) eröffnet wurde und in dem Landschaftsplanung, Bauwerkskonstruktion und -gestalt mustergültig zusammenwirken. Wer war's? Ein Ingenieur? Ein Architekt? Ein Landschaftsarchitekt mit einem Ingenieur ohne Architekt? Und welche Bereiche des Bauens waren betroffen? Umwelt, Wirtschaft, Logistik – in einer Reihe von sieben kleinen Bauwerken?

Dass die Baukunst unteilbar ist, stimmt in ihrer Rezeption, aber nur selten in ihrer Konzeption. Eine sprachliche Überlegung sei hier angefügt: Ersetzt man «Baukunst» durch «Architektur», geht es für «Architekturtheorie» statt «Baukunsttheorie» noch an. Durch «Ingenieurbautheorie» liesse sich «Baukunsttheorie» jedoch nicht schadlos ersetzen.

Mit unterschiedlichen Konstruktionstypen ermöglichen und bereichern sieben schöne Fussgängerbrücken den Trutg dil Flem. Hier zeigen wir Architekturfotografien – worin sollten sich «Ingenieurbaufotografien» von ihnen unterscheiden können?

Theoriebildung
Beim Flimser Wanderweg stellen sich die Bauthemen in einer überschaubaren Komplexität. Zugleich überrascht hier eine unglaublich vielfältige Beziehung zwischen Landschaft und Wegen und Brückentypen aufs Schönste. Niemand kommt auf diesem Weg auf die Idee, dass die Baukunst nicht unteilbar sein könnte.

Die Berufe «Architekt und Ingenieur» entwickelten sich seit dem 17. Jahrhundert nicht zuletzt aus merkantilistischen Gründen sehr spezifisch auseinander – wie, ist wissenschaftlich gar nicht schlecht erforscht. Die jeweiligen Berufssparten erreichten jeweils eine Komplexität, die inzwischen kaum noch zueinander zu führen ist. Aber ein gemeinsamer theoretischer Überbau interessierte in dem Spezialisierungstempo nicht (2). Himmelstürmende Hochhäuser, rekordverdächtige Brückenspannweiten, signifikante Formen – und alles begleitet von ideologischen Grabenkämpfen: Architekturtheorie beanspruchte stets die Gesamtheit des Bauens, Ingenieurbau inklusive. Ob es der methodische Ansatz der Semiotik war (Christian Norberg-Schulz, Logik der Baukunst, 1963) oder die soziologisch begründeten Überlegungen zum «Schaum» im Zusammenhang mit dem Stadionbau (Peter Sloterdijk, Sphären, Band III, 2004): Leistungen von Bauingenieuren werden kurzerhand der Architektur zugeordnet und in eine ganzheitliche Überlegung zur gebauten Umwelt integriert  – weil Architekturtheorie aus der Analyse primär des Gebauten, sekundär der Bauenden heraus argumentiert. Das Gebaute ist, wenn's gut geht, ein Gesamtkunstwerk.

Holz, Stahl, Stein, Beton: Die kleinen Brücken feiern Material- und Konstruktionsvielfalt.

Kritik des Metiers
Architekten müssen sich nicht zuletzt aufgrund ihres berufstheoretischen Überbaus fragen lassen, warum sie diese oder jene Aufgabe überhaupt übernehmen, warum sie grundsätzliche Komponenten des Bauens – wie Funktion, Ökonomie und Gestalt – stets neu zusammenbringen wollen. Und überhaupt: Da geht es immer ums Grosse und Ganze, auf das sich auch die Architekturkritik (als propädeutische Disziplin der Architekturtheorie) bezieht. Werden Bauingenieuren je solche Fragen gestellt? So gut wie nie, denn längst haben sich Bauingenieure in einem grundsätzlich dienstleistenden Aufgabengebiet eingerichtet, das kaum eine Theoriebildung nach sich zog. Es sind einzelne Aspekte des Bauens, die sie dabei für sich beanspruchen: Tragwerksplanung ganz gewiss, Energiekonzepte und Bauphysik generell auch. Ausserdem zählen die Bauingenieure die gesamte Infrastruktur zu ihrem Metier. Solche (Ingenieur-)Arbeitsbereiche betreffen in erster Linie eine technikwissenschaftliche Kompetenz, die Architekten weitgehend aufgegeben haben. Zwar gab es immer wieder einzelne Bauingenieure mit gestalterischen Ambitionen, und im angelsächsischen Sprachraum sieht das Verhältnis zwischen Architekt und Ingenieur ohnehin anders aus. Auch schickt sich eine jüngere (Computer-)Architektengeneration an, gerade die Tragwerksplanung zumindest konzeptionell wieder voranzutreiben, aber ohne professionelle Tragwerksplaner (also Bauingenieure) kommt sie nicht weit. Kooperationen zeichnen sich ab – und die forderte man ja schon immer. Die Theoriebildung scheint dabei immer nur dann notwendig zu sein, wenn es um Abgrenzung von Berufsbildern geht (3).

Rund, geknickt, abgetreppt, gebogen: Die Passierformen sind überzeugend auf die jeweilige Landschaftscharakteristik abgestimmt.

Theorietransfer
So liesse sich die Zusammenarbeit zwischen Bauingenieuren und Architekten auch wesentlich verbessern, wenn Teile der Architekturtheorie von Ingenieuren einfach besetzt und dann aber spezifisch weiterentwickelt würden. Dazu gibt es selbstverständlich Pionierarbeiten einzelner Ingenieurbüros, die auch die Aufmerksamkeit der architekturinteressierten Öffentlichkeit auf sich ziehen: Schlaich Bergermann und Partner, die als erste im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt mit Arbeiten ausgestellt wurden (4); oder das Ingenieurbüro Bollinger + Grohmann Ingenieure, deren Werk derzeit ebenda gezeigt wird (5). «Just a simple engineering love affair» heisst es auf der Website von Bollinger + Grohmann, was zunächst etwas kryptisch klingt, aber erklärt, dass sich dieses Büro als kuscheliges Mitglied eines Planungsteams begreift. Und sich darin unhierarchisch einordnet. Architekten – das hat sich herumgesprochen – arbeiten mit Bollinger + Grohmann sehr gern zusammen. Auch, weil es ihnen gerade nicht auf die unmittelbare Sichtbarkeit ihrer Leistung ankommt (6). In diesem Sinne agierte auch der Bauingenieur Johann Grad (7).

Für eine Theoriebildung des Ingenieurbaus könnte sich abzeichnen, die Architekturtheorie auf jene Themenbereiche zu durchforsten, in denen sie, die Ingenieure, kritikfähige Beiträge liefern. Wenig hilfreich scheint, auf Teufel-komm-raus eine «Ingenieurbauästhetik» zu propagieren. Aus dem Gebauten heraus stünde eine «Theorie des Unsichtbaren» an, die sich beispielsweise nicht im vermeintlich Sichtbaren des Kraftflusses erschöpft.

Bauingenieure müssten sich ausserdem – wie Architekten – fragen lassen, warum sie diese oder jene Aufgabe überhaupt übernehmen. Aber Bauingenieure lassen sich ungern fragen. Im aktuellen ZEIT-CHE-Hochschulranking 2013/14 heißt es in der Kurz-Info zum Studium des Bauingenieurwesens: «Bauingenieure sind Experten für Gebäude –von der Planung bis zum Rückbau (8). Anfangs stehen viel Mathematik und Mechanik auf dem Stundenplan. Öko- und Energiethemen sind wichtig. Die Studenten müssen ein Praktikum auf einer Baustelle absolvieren». Wieso geht kein Bauingenieur auf die Barrikaden, um so einem Schmarrn zu widersprechen? Vielleicht, weil er, der Schmarrn, stimmt? Wenn Teile der Architekturtheorie von Ingenieuren besetzt und weiterentwickelt werden sollen, um für einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs relevant zu werden, müssten den Ingenieurbauwesenstudenten erst einmal Grundkenntnisse in der Architekturtheorie beigebracht werden – im Sinne eines Perspektivwechsel weg vom Berufsbild, hin zum Ergebnis.

Urheber und Planer der hier gezeigten Brücken ist Jürg Conzett, der mit dem «Laien» Guido Casty auch den gesamten Wanderweg in der Flimser Berglandschaft überlegte. (Bilder: Wilfried Dechau; aus dem Buch «Trutg dil Flem», Scheidegger & Spiess, 2013)

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